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True Crime

Welche Aspekte sind für den Jugendmedienschutz relevant?​

Brigitte Zeitlmann

Medienradar, 11/2021

Das Genre True Crime boomt. Die postume Dokumentation realer Verbrechen anhand von Originalaufnahmen, nachinszenierten Tathergängen und Interviewsequenzen mit Expert:innen, Angehörigen oder gar Täter:innen findet eine große Zuschauerschaft. Unter dem Label „True Crime“ finden sich Sendungen mit unterschiedlicher Perspektive und inhaltlicher Ausrichtung sowie stark variierender Intensität der Gewalt- und Bedrohungsszenarien. Daraus ergeben sich vielfältige Aspekte, die für die Jugendschutzbewertung relevant sind. 

Welche Angebote absolut unzulässig sind, also weder im Fernsehen ausgestrahlt noch im Internet (Telemedien) verbreitet werden dürfen, regelt der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV). Bei der Frage nach einer möglichen Unzulässigkeit sind für das True-Crime-Genre insbesondere Angebote relevant, die Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen und ihre Kennzeichen darstellen sowie Angebote, die gegen die Menschenwürde verstoßen (vgl. § 4 Abs. 1 JMStV).

Relativ unzulässige Angebote sind solche, deren Verbreitung im Fernsehen unzulässig, in Telemedien dagegen erlaubt ist, sofern der Zugang nur für Erwachsene sichergestellt ist. Dies sind pornografische und indizierte Inhalte sowie Angebote, die offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten schwer zu gefährden (vgl. § 4 Abs. 2 JMStV).

Kinder und Jugendliche sind vor Inhalten zu schützen, die nach den herrschenden gesellschaftlichen Wertmaßstäben geeignet sind, ihre Entwicklung oder Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen (vgl. § 5 JMStV). Dies sind z. B. Angebote, die für bestimmte Altersgruppen ängstigend oder sozialethisch desorientierend wirken können oder gewaltbefürwortend oder ‑fördernd sind. True-Crime-Sendungen können in ihrer Drastik und Eindringlichkeit sehr unterschiedlich ausfallen, die Spannbreite reicht deshalb von Altersfreigaben ab 12 Jahren, die auch im Tagesprogramm ausgestrahlt werden dürfen, bis zu Kennzeichnungen ab 18 Jahren.

Menschenwürde

Der oberste Verfassungsgrundsatz findet sich in Artikel 1 des Grundgesetzes wieder: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Jeder Mensch ist wertvoll und darf nicht zum bloßen Objekt herabgewürdigt werden. Der Schutz der Menschenwürde findet sich auch im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 4 Absatz 1 Satz 1 Nummer 8 JMStV) wieder. Demnach sind Medieninhalte unzulässig, die Menschen darstellen, „die sterben oder schweren körperlichen Leiden ausgesetzt sind, wobei ein tatsächliches Geschehen wiedergegeben wird, ohne dass ein berechtigtes Interesse gerade in dieser Form der Darstellung oder Berichterstattung vorliegt.“ Ein berechtigtes Interesse liegt beispielsweise dann vor, wenn das Berichterstattungsinteresse bzw. das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit hoch ist und die Darstellung zur Veranschaulichung unverzichtbar erscheint. Die Einwilligung der Person ist dabei unbeachtlich. Der Schutz der Menschenwürde gilt auch postmortal. Auch nach dem Tod hat der Mensch ein Recht auf diesen Schutz, weshalb Tote in den Medien nicht identifizierbar sein sollen. In diesem Beispiel wurde deshalb die Darstellung der Leiche verpixelt. Hier ist der ganze Körper betroffen, in anderen Fällen reduziert sich die Verpixelung auf den Gesichtsbereich.

Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen

Werden Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen, Grußformen und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen – oder solche, die ihnen zum verwechseln ähnlich sind – in True-Crime-Sendungen gezeigt, so sind diese nur zulässig, wenn sie entsprechend der „Sozialadäquanzklausel“ (gem. § 86 Absatz 3 StGB) eingebettet werden. Es gilt also, den Kontext zu begutachten. Erhält das Kennzeichen eine Einordnung, welche die betreffende Ideologie kritisch betrachtet und ablehnt, so können die Symbole gesendet werden (gem. § 4 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 JMStV und § 86 (3) des StGB). Zulässig sind die Darstellungen des Weiteren, wenn sie der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Kunst, Wissenschaft, Forschung oder Lehre, der Berichterstattung über Zeitgeschehen oder der Geschichte dienen. In Spielfilmen, wenn die Bösewichte mit Nazi-Symbolik gekennzeichnet werden, ist man etwas liberaler, da hier der fiktionale Kontext im Vordergrund steht und zudem die Kunstfreiheit greift. In dieser Episode von Deadly Sinds – Du sollst nicht töten wird die nationalsozialistische Ideologie des Täters deutlich kritisch eingebettet. Eine Ausstrahlung im Hauptabendprogramm, verbunden mit einer Altersfreigabe ab 12 Jahren, wurde vom FSF-Prüfausschuss entschieden.

Fokussierung auf den Mord

Im Mittelpunkt dieser Episode steht die Geschichte von Linda Pedroza, die im Alter von 17 Jahren zusammen mit ihrem Freund ihre Mutter getötet hat. Obwohl auf der Bildebene der Mord nicht explizit dargestellt wird, können die verbalen Beschreibungen der grausamen Tat eindringlich wirken. Auch die Perspektive der Täterin und die Beschreibung der psychologischen Hintergründe der Tat können belasten. Dass es sich um ein reales Verbrechen innerhalb der Familie handelt, erschwert eine Distanzierung. Da aber keine expliziten Gewaltbilder enthalten sind, das Leid des Opfers nicht ausgespielt wird, das Geschehen zeitlich zurückliegt und die Episode insgesamt entlastende Momente bereithält, entfaltet sich auch keine starke Sogkraft, die 12-Jährige in ihrer Rezeption überfordern könnte. Diese Altersgruppe ist aufgrund ihrer Medienerfahrung in der Lage, die genretypische Umsetzung begreifen und einordnen zu können. Daher wurde eine Freigabe für das Hauptabendprogramm beschlossen.

Ausgespielte Reenactments​

Eine starke Emotionalisierung kann die Wirkung der Sendung verstärken. Es fällt schwer, sich von dem Gezeigten zu distanzieren, wenn man in das Geschehen „hineingezogen“ wird. Bei dem Genre True Crime kommt noch verstärkend hinzu, dass es sich um reales Geschehen handelt. Damit kann die Anknüpfung an den eigenen Alltag begünstigt werden. Die Emotionalisierung eines Zuschauenden kann auf unterschiedliche Weise hervorgerufen werden. Bei True-Crime-Sendungen geschieht dies häufig durch bewegende Aussagen der Opferangehörigen oder auch durch ausgespielte Reenactmentszenen. In diesem Beispiel ging der Prüfausschuss davon aus, dass unter 16-Jährige von dieser stark gedehnten, suggestiven Erzählweise des nachgespielten Tathergangs nachhaltig geängstigt sein können. Wenngleich die Tat in den USA ausgeführt wurde, so kann die Situation des Wildcampens durchaus auch für Zuschauende in Deutschland vorstellbar sein. Eine Übertragung auf die eigene Lebensrealität ist also möglich und verstärkt damit die ängstigende Wirkung.

Mord in einem lebensnahen Kontext​

Ist das Geschehen für die eigene Lebensrealität vorstellbar, fand es vielleicht sogar in der Nähe des eigenen Wohnortes statt oder wurde die Tat erst in der jüngeren Vergangenheit verübt, fällt es leichter, die Schilderungen in den persönlichen Lebensalltag zu übertragen. Dadurch kann eine distanzierte Wahrnehmung erschwert und Ängste können verstärkt werden. Findet beispielsweise ein Mord – wie im gezeigten Medienbeispiel – innerhalb einer Familie statt und sind Kinder beteiligt, so kann dies an Ängste von Kindern anknüpfen. Private Fotoaufnahmen können die lebensweltliche Nähe zusätzlich unterstreichen. Wenngleich die Kinder visuell nur angedeutet werden, so wird dennoch deutlich, dass sie ungewollt eine Rolle in dem eskalierenden Sorgerechtsstreit spielten. Eine übermäßige Ängstigung für Jüngere kann daher nicht ausgeschlossen werden, weshalb die Episode eine Freigabe für das Hauptabendprogramm erhielt.

Die Tat als Sensation

In den FSF-Prüfausschüssen kann bei True-Crime-Formaten auch über eine desorientierende Wirkung diskutiert werden, wenn die Reportage einen reißerischen oder sensationsheischenden Grundton erhält. Gelegentlich wird derart auf die „Monströsität“ der Täter:in abgehoben, dass die Tat als gruselige Sensation aufbereitet wird. Dies kann Kinder desorientieren und ihnen eine distanzierte Einordnung des Geschehens erschweren.

Diskriminierung durch Kriminalisierung von Vorlieben und Eigenschaften

Manchmal werden in True-Crime-Formaten Eigenschaften oder Vorlieben von Täter:innen in einen kriminellen Kontext gestellt. Damit entsteht der Eindruck, dass beispielsweise ein bestimmtes Hobby oder wie in diesem Fall der Transvestitismus als Vorbote einer Gewalttat zu interpretieren ist. Damit werden Scripte vermittelt, die entgegen dem Gleichheitsgrundsatz und Toleranzgebot unserer Gesellschaft stehen. Da dies aber nur angedeutet wird, kann ab 16-Jährigen eine kritische Einordnung zugetraut werden. 12-Jährige, die sich in der Phase der Identitätsfindung befinden, wären damit hingegen deutlich überfordert.

Übertöten

Wird auf ein Opfer weiter brutal eingewirkt, obwohl es schon überwältigt und tot ist, so spricht man vom Übertöten. Wenn diese Form der brutalen und hemmungslosen Gewaltausübung bildlich dargestellt wird, so liegt eine Freigabe frühestens ab 16 Jahren nahe. Dieser Altersgruppe kann durch ihre Genre- und Medienkenntnis eine distanzierte Wahrnehmung zugetraut werden. In dieser Episode von Evil Twins vermutete der FSF-Prüfausschuss eine Ängstigung 12-Jähriger durch die Brutalität der Tat und deren Bilder. Auch eine Desensibilisierung wurde diskutiert. Wird Gewalt in ihrer Hässlichkeit spekulativ umgesetzt, so kann dies zu Abstumpfungseffekten bei Rezipient:innen führen.

Thematisierung der Todesstrafe

Werden Inhalte wiedergegeben, die im Widerspruch zum gesellschaftlichen Wertekonsens, insbesondere zu den Grundwerten unserer Verfassung und den daraus abzuleitenden Grundprinzipien für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft, oder den allgemeinen Gesetzen stehen, so werden diese von der FSF eingehend geprüft. Werden die betreffenden Aussagen kritisch eingeordnet oder von Antagonist:innen getroffen, so kann auch jüngeren Zuschauenden eine Einordnung zugetraut werden. Geschieht dies allerdings durch Sympathiefiguren und wird dem nicht widersprochen, so kann dies ein Indiz für eine spätere Freigabe sein. In dieser On the Case-Folge äußern sich amerikanische Vertreter des Gesetzes positiv über die Todesstrafe: Der Haupttäter Herrera „hätte den Tod verdient“ bzw. der Ermittler hätte „gern die Todesstrafe gesehen“. Dadurch wird suggeriert, dass diese Strafe aus Sicht der Exekutive angemessen bzw. angebracht scheint. Wenngleich auch 12-Jährigen die Unterschiede der amerikanischen und deutschen Rechtssprechung geläufig sein können, so erschweren diese sehr dezidierten Äußerungen die Einordnung erheblich. Als entlastend kann gewertet werden, dass die Angehörigen mit der Verurteilung zu einer lebenslänglichen Haftstrafe einverstanden sind.

Zusammengestellt von

Brigitte Zeitlmann ist hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen und arbeitet in dem Bereich der Medienpädagogik bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Als Redakteurin verantwortete sie beim multimedialen Lehrangebot Faszination Medien den Bereich Jugendschutz und war jahrelang Mitglied der Auswahlkommission der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) Generation. Sie ist außerdem Prüferin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) sowie regelmäßig Mitglied der Nominierungskommission und Jury des Grimme-Preises.

[Bild: Sandra Hermannsen]