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Antisemitismus im deutschen Gangsta-Rap 2

Haftbefehls Street Credibility und Kollegahs Inszenierungen

Dirk Uhlig

Medienradar, 07/2020

Hat der deutsche Rap, insbesondere der Gangsta-Rap, ein Antisemitismusproblem? In Teil 2 untersuchen wir zwei prominente Vertreter*innen der deutschen Gangsta-Rap Szene und deren Inszenierungsmuster unter oben genannter Fragestellung. Neben Musikvideobeispielen finden sich hier wertvolle Hintergrundinformationen aus Dokumentationen, Radiobeiträgen, Vorträgen und Podiumsdiskussionen zum Thema.

„Und ticke Kokain für die Juden von der Börse“

Die Textzeile „Und ticke Kokain für die Juden von der Börse“ in seinem Song „Psst“ wurde Haftbefehl in der Debatte um Antisemitismus im Rap zum Verhängnis.

Er selbst erklärt die Textzeile folgendermaßen: „Viele reiche Börsianer sind nun mal einfach Juden. Aber das heißt ja nicht, dass ich etwas gegen Juden habe. Überhaupt nicht. Ich habe nichts gegen andere Völker, ich respektiere jede Kultur. (…) Als Kurde weiß ich auch, was es bedeutet, verfolgt zu werden. Ich kenne meine Grenzen. Ich würde Juden niemals beleidigen oder mit irgendwelchen Judenwitzen um die Ecke kommen.”[1]

Auch als der Song „Psst“ 2014 in einem Tatort-Krimi auftaucht, wird über die Zeile öffentlich diskutiert. Im Zuge der Tatort-Diskussion hat sich Haftbefehl über Facebook erneut zu der Textstelle geäußert: „Als ich noch als Jugendlicher im Frankfurter Banken- und Bahnhofsviertel Drogen verkaufte, hatten einige meiner ‘Stammkunden’ jüdische Wurzeln. Hätte ich Gummibärchen an Eskimos verkauft, wäre die Textzeile anders ausgefallen. Ein Aspekt von Antisemitismus ist die Gleichsetzung von Judentum und Geld, die ich für falsch und dumm halte.“[2]

Oliver Polak im Gespräch mit Haftbefehl

In einem ARTE-Beitrag aus der Reihe Durch die Nacht vom 08.02.2015 fahren Haftbefehl und Oliver Polak nachts in einer Limousine gemeinsam durch Frankfurt am Main.[3] Oliver Polak, ein Comedian jüdischer Herkunft, diskutiert während der Fahrt mit Haftbefehl über einige seiner Lines und über antisemitische Ressentiments in den Denkstrukturen Haftbefehls.

Lines über Juden – struktureller Antisemitismus

Viola Funk beschäftigt sich in ihrer WDR-Dokumentation Die dunkle Seite des deutschen Rap unter anderem mit dem Rapper Haftbefehl und einigen seiner Lines.[4] Monika Schwarz-Friesel, Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin, ordnet die Lines über „Juden an der Börse“ eindeutig dem strukturellen Antisemitismus zu.

Der Rothschild-Begriff in Haftbefehls Lines

In mehreren seiner Songs agiert Haftbefehl mit dem Rothschild-Begriff. Vassili Golod und Jan Kawelke nehmen in der Folge Immer wieder – Antisemitismus ihres Radio-Podcasts COSMO Machiavelli – Rap und Politik Bezug auf den Begriff und ordnen Haftbefehls antisemitische Äußerungen ein – auch im Hinblick auf die Verantwortung, die man als Rapper*in mit hoher Reichweite gegenüber seinem Publikum hat.[5]

Haftbefehl: „Ihr Hurensöhne“

Das Musikvideo „Ihr Hurensöhne“ von Haftbefehls Album Russisch Roulette (2014) spielt besonders auf der Bildebene mit einer mit Reichtum, Arroganz und Dekadenz aufgeladenen Darstellung einer Gruppe männlicher orthodoxer Juden.

 

Schützt Street Credibility vor Antisemitismusvorwürfen?

Wie antisemitisch ist der deutsche Rap wirklich? Diese Frage diskutierten Marcus Staiger, Journalist und ehemaliger Labelbetreiber von Royal Bunker, Ben Salomo, jüdischer Rapper und Gründer von Rap am Mittwoch, Viola Funk, Journalistin und Regisseurin der WDR-Dokumentation Die dunkle Seite des deutschen Rap und Jakob Baier, Politikwissenschaftler und Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, gemeinsam am 12.07.2018 auf dem Podium Wie antisemitisch ist der deutsche Rap?. David Häußer, bekannt als der Rapper form, moderierte die Diskussion.[6]

Jakob Baier spricht über die hohe Street Credibility von Haftbefehl und die Frage, ob sich allein damit ein Antisemitismusvorwurf ausräumen lasse.

 

Kollegahs Song „Apokalypse“

2016 veröffentlichte Kollegah den Song „Apokalypse“. Mit ihm schuf er einen zwölfminütigen Storyteller, der in vier Akte gegliedert ist. Das Video ist in einem comicartigen Stil gehalten und visualisiert die Erzählung der Verschwörungsmythologie der „13 Illuminaten-Familien”, die der christliche Rechtsesoteriker Fritz Springmeier (USA) ausgearbeitet hat und bei denen es sich klar überwiegend um Juden handle. Kollegah stellt die Menschheitsgeschichte als Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“ dar und stilisiert sich selbst als Superhelden, der zur Befreiung der Welt angetreten ist. Schließlich geht Jerusalem im apokalyptischen Endkampf in dämonische Flammen auf.

Hier ein Auszug aus dem Songtext von „Apokalypse“ zur Analyse. Das Video ist mittlerweile auf YouTube nicht mehr verfügbar.

„Die Welt ist noch nicht gerettet, aber der Widerstand erstarkt!
Mir wurde offenbar, was sonst niemand anderes sah
Doch jetzt sieht man die Gefahr, von Palästina bis Katar
Was geschrieben stand, ist wahr, im Talmud, im Qur’an
Und in der Bibel las ich’s nach, der Niedergang ist nah
(…)
Lern die verbotenen Schriften kennen und du weißt, was war
Dass nur die erste Welle vorbei ist, doch die zweite naht!
Ich las den Geheimvertrag, den sonst keiner sah
Den man im engsten Kreis verbarg und nur dort weitergab
In einer Geisterstadt, im dunklen Kellergewölbe
Seh’ ich die Zukunft: Unsere Welt wird zur Hölle!
Eine seltene Quelle spricht von grauenvollen Tagen
Und von lauernden Gefahren, die vor tausenden von Jahren
Ihren Lauf genommen haben
An einem Zeitpunkt bevor die heutigen Geheimbunde aufgekommen waren
(…)
Hunderte Viehweiden von Mittelmeerregionen
Bis zum Landesinnern, verbrannten in ’ner Hitzeperiode
Wie auch die meisten Wälder, Korn- und Weizenfelder
Nur die reichsten Männer hatten damals volle Speicher-keller
Es war außergewöhnlich
Das ganze Reich verkam zu einer grausamen Ödnis, nur die Hauptstadt des Königs
Die erblühte umso mehr
Er entzog dem Land Kraft, um selbst zu strahlen, das hat ihn die düstre Kunst gelehrt
Und er wütete umher wie einst barbarische Horden
(…)
Dass jemand einmarschierte, um die Stadt mit Truppen einzunehm’n
Es war der herzlose Feind, das persische Reich
Sie nahmen die Stadt und machten sie dem Erdboden gleich
(…)
So kam es, dass so manch ein Delinquent zum Zweck der Blutmagie sein Haupt verlor
Sie trugen ihre Zauber vor, doch der Preis war groß
Sie türmten täglich Leichnam für Leichnam hoch
Doch eines Tages war jede Verlieszelle leer
Und die Dschinn hatten damit keine Energiequelle mehr
Drum führten alle großen Herrscher etliche Kriegsschlachten
Und es war ihnen egal, ob sie Verlust oder Sieg brachten
Weil Opfer jeder Art ihre Kräfte vervielfachten
Diese Kräfte bündelten sie an starken Energie-achsen
(…)
Ich weiß, dass die Endzeit anbricht
Und sende das Signal, damit die allerletzte Streitmacht der Menschheit antritt
Unabhängig von Religion, Herkunft oder Stand
Sie werfen sich in’ Kampf ohne Ehrfurcht oder Angst
Denn bevor sie sich den teuflischen Dämonen unterwerfen
Nehmen sie in Kauf, dass sie in den Tod gezwungen werden
Ich würd’ notgedrungen sterben
Doch damit ihr Kampf eine Chance hat, muss ich losziehen und einen Knotenpunkt zerstören
Und niemand hält mich ab, denn
Wenn ich es nicht vermag, das Energiekraftfeld zu kappen, gehört diese Welt den Schatten
Ich bin bereit zum Heldentod
Reis’ in Windeseile zum Jerusalemer Felsendom, dort entspringt der Weltenstrom
(…)
Doch der letzte Tropfen Blut an diesem Ort ist noch nicht geflossen, das Morden nicht gestoppt, denn
Auch wenn jetzt kein weiterer Dämon mehr nachkommt
Gleicht ganz Ost-Jerusalem einer enormen Schlachtfront
Die letzte Bastion der Menschheit wehrt sich mit Kämpferherz
Gegen eine endlose Übermacht auf dem Tempelberg
Auf Seiten der Menschen türmen sich Leichen zu Bergen
Doch die feindlichen Schergen - sie schein’n nicht zu sterben
(…)
Ich geh’ ostwärts, der Boden ist durchzogen von Rissen
Lava fließt untendurch, ich spür’ brodelnde Hitze
Und geh’ ins Bankgebäude, in der Luft liegt angedeutet
Der Geruch von Schwefel, dazu der Gestank von Fäule
(…)
Sein edler Suit fängt Feuer, bis er letztendlich verbrannt ist
Klauen erscheinen plötzlich, wo eins seine Füße waren
Sein Rücken bricht auf, weil ihm dort Flügel wachsen
Ich seh’ ihn düster starren, dann springt er aus dem Fenster
Das Letzte, was ich seh’, ist seine Schwingen wütend schlagen
Er ist fort ... ich seh’ in ’ner Scherbe die Vision:
Der Kampf in Jerusalem geht weiter, doch endlich sterben die Dämon’n.‘
Etliche Jahre sind seit dem Kriegsende vergang’n
Die Menschen auf der Erde leben friedfertig zusamm’n
Man sieht, wie Buddhisten, Muslime und Christen
Gemeinsam die zerstörten Städte wieder errichten
(…)“

 

Songwriter: David Ruoff, Elias Klughammer, Felix Blume, B-Case, Kai Engelmann. Phillip Herwig, Djorkaeff, Beatzarre
[Songtext: Universal Music Publishing Group, BMG Rights Management]

„Apokalypse“ und Verschwörungstheorien

In der WDR-Dokumentation Die dunkle Seite des deutschen Rap von Viola Funk (28. März 2018)[4] analysiert Jakob Baier Teile des Videos „Apokalypse“. Baier legt sowohl in der textlichen als auch in der comicbildartigen Struktur des Videos die Elemente der Verschwörungstheorie als klar strukturell antisemitisch offen.

KC Rebell ft. PA Sports, Kianush & Kollegah: „TelVision“

Jakob Baier im Gespräch mit Felix Denk, fluter – Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung vom 20.04.2018: „Das Musikvideo »TelVision« (2016) von KC Rebell ft. PA Sports, Kianush und Kollegah thematisiert beispielsweise eine angebliche Einflussnahme eines kleinen, unheimlichen und mächtigen Zirkels, der zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der restlichen Menschheit systematisch die Medien manipuliert. »Ihre Propagandamissionen täuschen Abermillionen«, heißt es im Refrain. In einer Sequenz ist jener düstere Machtzirkel zu sehen; in der ersten Reihe steht ein Mann, der eine jüdische Kopfbedeckung trägt. Auch die Farben seiner blau-weißen Krawatte legen eine Assoziation mit dem Judentum und dem Staat Israel nahe. Hier drängt sich die Frage auf: Warum steht ausgerechnet ein Jude in der ersten Reihe eines Machtzirkels, der angeblich weltweit die Medien manipuliert?“[7]

Hier der Text zum offiziellen Musikvideo:

„Stell den Sender auf die richtige Frequenz
Dein Lehrer lügt, vergiss die Geschichten, die du kennst
Präsidenten, Terroristen die Gesichter, dieser Welt
Wollen Besitz von unserm Geist und vergiften dich mit Geld
TelVision, wir zeigen dir Bilder, die du nicht sehen darfst
Bis dein Blut kocht dreihundertzehn Grad
In Afrika spürst du den Ballast der Gewalt
Statt ’ner Silberkette tragen sie die Kalash um den Hals
Mexiko, Guerilla-Welt, Drogenkrieg
Gangs schlachten sich, bis es auf beiden Seiten Tote gibt
Miami Beach, Koksnasen spiel’n Monopoly
Kolumbianische Kartelle waschen Geld im großen Stil
Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Lobbyisten bauen hier mit Blutgeld ihr Königreich
Während das Gesetz die Freiheit in Ketten legt
Geben sich die Emirates Bellydance und fette Steaks
TelVision, Europa ist im Fadenkreuz
Koka-Politik, ich seh’, wie eure Nase läuft
Russland, Moskau, Waffenproduktion
Demokratie, eine Lüge, Massenkorruption
TelVision, wir erhöhen jetzt die Lautstärke
Ob wir fressen oder hungern, wir hab’n Bauchschmerzen
Während der Westen feiert, wird die dritte Welt bedroht
Ungefilterte Bilder, TelVision!

Was ist wahr, was Fiktion?
Ihre Propagandamissionen täuschen Abermillionen
Was ist wahr, was Fiktion? (Sei sicher)
Du wirst jeden Tag angelogen, sieh mit klarer Vision
Die eine Seite stirbt den Heldentod
Die andere lenkt die CIA-Kriegsdrohen
Beide sagen, dass der andere die Welt bedroht
Bei dem, was läuft, ist die Hälfte Show, hier auf TelVision

Schalte dein Gerät auf das richtige Programm
Anonymous hackt sich ein, hier kommt Mister Unbekannt
Sie vergiften uns mit Angst und ersticken uns im Kampf
Jeder Mensch ist eine Nummer im Register dieser Bank
Großbritannien, London, Scotland Yard
Kriegsverbrecher sind immer noch auf Kopfgeldjagd
Israel, Mossad, Atommacht
Sie schlachten Palästinenser mit ihren Drohnen ab
TelVision, willkommen im Libanon
Zwischen Sunniten und Schiiten hat der Krieg begonnen
Nordkorea wird beobachtet per Satellit
Beim G8-Gipfel wurde Kim Jong aggressiv
Frankreich die Bullen tragen MP5
Und leben grade mehr als wir diesen Gangsterscheiß
Der Hahn wird zugedreht, die Konten gefroren
Kugelhagel über Kobanê, ein Bombardement
Im Iran wird das Opium ans Volk verteilt
Da drüben beißen dir die Junkies wie ein Wolf ins Fleisch
Deutschland, Export, Großinvestor
Thailand, Sexort, Rotlicht im Sektor
Einhundertdreiundneunzig Länder, die die Erde teilen
Thunder in Paradise wer wirft den ersten Stein?
Wer half dieser Welt in Not? Gandhi oder Al Capone? (Don't believe the hype)
Alles Show hier auf TelVision

Was ist wahr, was Fiktion?
Ihre Propagandamissionen täuschen Abermillionen
Was ist wahr, was Fiktion? (Sei sicher)
Du wirst jeden Tag angelogen, sieh mit klarer Vision
Die eine Seite stirbt den Heldentod
Die andere lenkt die CIA-Kriegsdrohen
Beide sagen, dass der andere die Welt bedroht
Bei dem, was läuft, ist die Hälfte Show, hier auf TelVision“

Songwriter: Hueseyin Koeksecen, Marcel Uhde, Felix Blume, Kianush Rashedi, Parham Vakili
[Songtext: Warner/Chappell Music, Inc]

Kollegahs Palästinareise

Kollegah produzierte 2016 mit StreetCinema.tv die Dokumentation Kollegahs Trip to Ramallah.[8] Marcus Staiger kommentiert Kollegahs Palästinareise in Der Anpacker im Westjordanland, noisey, vice vom 30.11.2016: „Man sieht die neun Meter hohe Mauer, die Israel von den palästinensischen Autonomiegebieten trennt und die tiefe Wunden in der palästinensischen Geografie und Seele geschlagen hat. Doch statt in diesem Zusammenhang die Menschen zu Wort kommen zu lassen, die unter dieser Mauer zu leiden haben, dienen diese dem Boss, der neuerdings auch Imperator ist, lediglich als Stichwortgeber. Kaum ein Satz, der nicht ausgeblendet wird. Kaum ein Gespräch, das zu Ende geführt wird. Stattdessen übersetzt, erklärt und interpretiert Kollegah das Gehörte – alles gleichzeitig. Da ist kein vorsichtiges Fühlen, wie es den Leuten wirklich geht. Da gibt es kein Nachfragen.“[9]

Interview mit Kollegah zu seiner Palästinareise

Ausschnitt aus dem Interview mit Kollegah zu seiner Palästinareise auf dem Kanal Bremen NEXT vom 22.12.2016.[10] Neben der ausgeprägten Selbstinszenierung ist besonders Kollegahs Antizipation von möglichen Antisemitismusvorwürfen von Interesse.

Kollegahs Trip to Ramallah – eine Einordnung

Konstantin Nowotny, freier Journalist, analysiert Kollegahs Trip to Ramallah in seinem Vortrag Gefährliche Tendenzen – Antisemitismus im Deutsch-Rap vom 04.12.2017 und setzt Kollegahs StreetCinema-Produktion in Beziehung zu den Kommentaren, die unter dem YouTube-Beitrag zu finden sind.[11]

Konstantin Nowotny schreibt in seinem Artikel Wie antisemitisch ist der deutsche Rap?, in: WELT vom 30.12.2016: „In seinem abendfüllenden Film bewegt sich der selbst ernannte »Boss« des Deutschrap überwiegend durch das palästinensische Flüchtlingscamp al-Am’ari. Vor Ort nutzt er seine Muskeln und sein Geld, um Stühle und Computer für eine Bildungseinrichtung im Camp zu organisieren. Bezahlt wird bar in 500-Euro-Scheinen. Am Ende des Videos spricht er von etwa 30.000 Euro, die ihn die Aktion gekostet habe. Es kann so einfach sein: Nimm ein Bündel Scheine in die Hand, fahre an die Westbank und schleppe ein paar Bildschirme durchs Krisengebiet. Dafür braucht es keine Politik. Die Hintergründe des Nahost-Konflikts bleiben unkommentiert und werden ausgeblendet. Kollegah ist kein Journalist oder Politiker. Doch er tritt auf als sendungsbewusster Unterhaltungskünstler, der mit seiner Reichweite andere auf die Sache einschwören möchte. Mitten im Israel-Palästina-Konflikt wird sein unpolitischer Aktivismus zur gefährlichen Gratwanderung.“[12]

„Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“

Am 12. April 2018 erhielten Kollegah und Farid Bang einen Echo für das Album JBG 3. Im Interview vom selbigen Tag auf Deuschlandfunk Kultur geht Hannes Loh, deutscher Autor und HipHop-Musiker, im Gespräch mit Stephan Karkowsky der Frage nach, ob die Textzeile „Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“ im Song „0815“ einfach nur schlechter Geschmack oder schon Antisemitismus sei.[13]

„Ich leih dir Geld, doch nie ohne 'nen jüdischen Zinssatz mit Zündsatz“

In der WDR-Dokumentation Die dunkle Seite des deutschen Rap von Viola Funk (28. März 2018) wird auch die Aufregung um eine Textzeile aus Kollegahs Song „Sanduhr“ thematisiert.[4]

Kendra Stenzel schreibt in ihrem Artikel Man wird ja wohl noch rappen dürfen… auf SPIEGEL ONLINE vom 06.02.2017: „Kollegah, einer der erfolgreichsten Vertreter der deutschen Rap-Szene, sollte im Juni im Rahmen einer Rap-Nacht beim Hessentag auftreten (…). Die Aufregung um den Auftritt, der von Beginn an umstritten war, gipfelte in einem offenen Brief, mit dem sich der Zentralrat der Juden in Deutschland und weitere jüdische Verbände an die Stadt Rüsselsheim wandten. Der Vorwurf: Kollegah propagiere in seinen Songs »Antisemitismus, Homophobie und Gewalt gegen Frauen«. Die Rap-Nacht wurde abgesagt. Kollegah wiederum reagierte auf die Anschuldigungen mit einem eigenen offenen Brief auf Facebook: Die Vorwürfe des Antisemitismus seien aus der Luft gegriffen, die zitierten Zeilen seien Jahre alt und teils nicht von ihm. Tatsächlich stammt die vom Zentralrat zitierte Zeile »Ich leih dir Geld, doch nie ohne 'nen jüdischen Zinssatz mit Zündsatz« nicht von Kollegah selbst, sondern von Favorite (»Sanduhr«, 2014)“.[14]

Kollegah selbst reagiert mit einem auf seinem Facebook-Account geposteten offenen Brief an den Zentralrat der Juden:

„Lieber Herr Neumann vom Zentralrat der Juden,
Ich bin es gewohnt, dass Genrefremde leider auch im Jahre 2017 die Kunstform des Battleraps noch nicht verstanden haben und uns Rappern Homophobie oder Frauenfeindlichkeit unterstellen. Diese Ignoranz gegenüber der größten Jugendkultur unserer Zeit und daneben auch kommerziell erfolgreichsten Musiksparte ist aus meiner Sicht zwar unzeitgemäß, jedoch ist sie mir nicht neu.
Die Vorwürfe des Antisemitismus dagegen sind neu. Dazu sind sie völlig aus der Luft gegriffen und haltlos. Den teilweise 13 Jahre alten, zum einen Teil aus »Battlerunden« und zum anderen Teil nicht einmal von mir selbst stammenden von Ihnen herausgepickten Zeilen stehen übrigens aktuellere Zeilen von mir gegenüber wie: »Wir sind Brüder, wir sind Schwestern, Nachkommen von Adam. Ganz egal ob wir nun Jahwe, Gott oder Allah sagen«.
Nachdem ich Sie am Mittwoch persönlich anrief, haben Sie eingeräumt, dass Sie zum Zeitpunkt des Unterzeichnens des Schreibens nicht einmal selbst glaubten, ich sei Antisemit, dennoch waren Sie leider nicht gewillt, die Vorwürfe öffentlich zurückzunehmen. Dies finde ich sehr schade, gerade auch weil ich Ihnen aufrichtigen Herzens anbot, eine gemeinsame wohltätige Aktion speziell für hilfsbedürftige Juden zu starten, um zusammen auch gerade für unsere Jugend ein echtes Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen.
Die Tatsache, dass in meinen bislang 13 Jahren Musikkarriere nie der Vorwurf des Antisemitismus auch nur im Raum stand und dies erstmalig ausgerechnet jetzt, kurz nach meiner Wohltätigkeitsreise in Palästina geschieht, mutet sonderbar an, jedoch will ich hier keinen Zusammenhang unterstellen. Vielmehr lade ich Sie zu einer öffentlichen Diskussionsrunde über das Thema im Sinne eines interkulturellen Austauschs ein.
Dies tue ich auch aus Rücksicht und Mitgefühl gegenüber der jüdischen Gemeinde in Deutschland, welche durch die haltlosen Vorwürfe seitens des Zentralrats womöglich tragischerweise mit in das Kreuzfeuer eines - zu verurteilenden - »Shitstorms« gegen jüdische Menschen im Allgemeinen auf Hip-Hop-Portalen und meiner Facebookseite geraten.
Wir sollten dem gemeinsam vorbeugen.
Herzlichst,
Felix Blume (Kollegah)“[15]

Antisemitismusvorwurf und Ablenkung

Wie antisemitisch ist der deutsche Rap wirklich? Diese Frage diskutierten Marcus Staiger, Journalist und ehemaliger Labelbetreiber von Royal Bunker, Ben Salomo, jüdischer Rapper und Gründer von Rap am Mittwoch, Viola Funk, Journalistin und Regisseurin der WDR-Dokumentation Die dunkle Seite des deutschen Rap und Jakob Baier, Politikwissenschaftler und Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, gemeinsam am 12.07.2018 auf dem Podium Wie antisemitisch ist der deutsche Rap?. David Häußer, bekannt als der Rapper form, moderierte die Diskussion.[6]

Jakob Baier spricht über das Problem, dass oftmals der Antisemitismusvorwurf selbst in der Debatte zum eigentlichen Skandal stilisiert wird.

1. Haftbefehl (Aykut Ayran), Interview mit dem Hip-Hop-Magazin Juice, zitiert nach WELT vom 16.04.2012, www.welt.de/kultur/musik/article106182968/Kokain-an-die-Juden-von-der-Boerse.html (abgerufen am 03.07.2020).

2. Haftbefehl (Aykut Ayran), Facebook-Post vom 12.03.2014, de-de.facebook.com/HaftbefehlOffiziell/posts/671674746226118?stream_ref=10 (abgerufen am 03.07.2020).

3. Durch die Nacht mit Haftbefehl und Oliver Polak, in: Durch die Nacht, ARTE vom 08.02.2015, www.youtube.com/watch?v=eRjoSSjMXME (abgerufen am 03.07.2020).

4. Die dunkle Seite des deutschen Rap, Dokumentation von Viola Funk, in: Die Story, WDR vom 03/2018, https://programm.ard.de/TV/wdrfernsehen/die-dunkle-seite-des-deutschen-rap/eid_28111577766950 (abgerufen am 03.07.2020), www.youtube.com/watch?v=HXZCmXK9wWc (abgerufen am 02.07.2020).

5. Immer wieder – Antisemitismus, in: COSMO Machiavelli – Rap und Politik, WDR vom 07.11.2018, www1.wdr.de/radio/cosmo/podcast/machiavelli/machiavelli-antisemitismus-102.html (abgerufen am 03.07.2020).

6. Wie antisemitisch ist der deutsche Rap?, Podiumsdiskussion vom 12.07.2018,  www.youtube.com/watch?v=ftZ_mcs55hU (abgerufen am 03.07.2020).

7. Baier, Jakob, in: Wie sind die denn drauf?, Gespräch von Felix Denk mit Jakob Baier, fluter – Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung vom 20.04.2018, www.fluter.de/antisemitismus-im-rap-kollegah-farid-bang (abgerufen am 03.07.2020).

8. Kollegahs Trip to Ramallah, Dokumentation von StreetCinema.tv vom 29.11.2016, www.youtube.com/watch?time_continue=943&v=AOqNrC_ILIM&feature=emb_logo (abgerufen am 03.07.2020).

9. Staiger, Marcus: Der Anpacker im Westjordanland – Staiger über Kollegahs Palästina-Reise, Kommentar, in: vice.com vom 30.11.2016, www.vice.com/de/article/8gxbbb/der-anpacker-im-westjordanlandstaiger-uber-kollegahs-palastina-reise (abgerufen am 03.07.2020).

10. Kollegah im Interview über Palästina und Weihnachten, Bremen NEXT vom 22.12.2016, www.youtube.com/watch?v=aa9A6i9xR4o (abgerufen am 03.07.2020).

11. Nowotny, Konstantin: Gefährliche Tendenzen – Antisemitismus im Deutsch-Rap, Vortrag vom 09.12.2017, http://emafrie.de/audio-gefaehrliche-tendenzen-antisemitismus-im-deutschrap/ (abgerufen am 03.07.2020).

12. Nowotny, Konstantin: Wie antisemitisch ist der deutsche Rap?, in: WELT vom 30.12.2016, www.welt.de/kultur/article160698449/Wie-antisemitisch-ist-der-deutsche-Rap.html (abgerufen am 03.07.2020).

13. Jugendliche konsumieren antisemitische Textzeilen unkritisch, Hannes Loh im Gespräch mit Stephan Karkowsky, in: Deutschlandfunk Kultur vom 12.04.2018, www.deutschlandfunkkultur.de/deutscher-rap-jugendliche-konsumieren-antisemitische.1008.de.html?dram:article_id=415374 (abgerufen am 03.07.2020).

14. Stenzel, Kendra: Man wird ja wohl noch rappen dürfen..., in: DER SPIEGEL vom 06.02.2017, www.spiegel.de/kultur/musik/kollegah-und-antisemitismus-im-rap-soundtrack-des-populismus-a-1133329.html (abgerufen am 03.07.2020).

15. Kollegah (Felix Blume), Facebook-Post vom 02.02.2017, https://www.facebook.com/kollegah/posts/1392828554090274 (abgerufen am 03.07.2020).

Zusammengestellt von

Dirk Uhlig arbeitete bereits seit 2007 als freier Gestalter eng mit dem Medienpädagogik-Team der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) für die Entwicklung und Umsetzung der Projekte Krieg in den Medien und Faszination Medien zusammen. Seit 2017 gehört er zum festen Team der Medienpädagogik der FSF. Nebenbei ist er als freier Dokumentarfilmschaffender tätig.

[Bild: privat]
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