Artikel

Der diskriminierungskritische Blick

Repräsentation, Sensibilisierung und Empowerment

Dirk Uhlig

In: mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105)

Repräsentation, Sensibilisierung und Empowerment: Der Kongress Vision Kino 23: Zurück in die Zukunft macht den Diskurs über die Möglichkeiten und Ziele diskriminierungskritischer Filmbildung zu einer der zentralen Herausforderungen der gegenwärtigen Filmkompetenzvermittlung.

Filmbildung und die subjektive Erinnerung

„Der Beginn aller praktischen Pädagogik ist die subjektive Erinnerung“[1], mit diesem Satz leitete Alfred Holighaus die Filmkompetenz-Erklärung ein – das Papier, das die Ergebnisse des von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ausgerichteten Kongresses Kino macht Schule im März 2003 zusammenfasste.

Der Kongress Vision Kino 23: Zurück in die Zukunft im Juni 2023 nahm im Sinne einer kritischen Bestandsaufnahme die Forderungen der damals entstandenen Erklärung – die nicht zuletzt den Weg zur Gründung von Vision Kino im Jahr 2005 wies – erneut ins Visier, um sie auf Aktualität zu prüfen und mit neuen Thesen für die Filmbildung zu ergänzen. Anlass dafür waren die neuen Herausforderungen an die Medien- und Filmkompetenz, anstehende Prozesse des Wandels in unserer Gesellschaft zu begleiten und aktiv mitzugestalten.

Seit einigen Jahren gilt Deutschland als zweitgrößtes Einwanderungsland der Welt. Die Gesellschaft ist bunt und divers, vielfältig an individuellen Lebenswegen und deren subjektiven Erinnerungen.

Könnten wir diese Geschichten einander erzählen, würde vermutlich ein ganz neues Verständnis für ein von Vermittlung, Teilhabe und Austausch geprägtes Miteinander entstehen.

Doch weder repräsentiert die Medien- und Filmproduktion ansatzweise diese Vielfalt, noch werden tradierte Vorstellungen und Sehgewohnheiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft genügend hinterfragt. So manifestiert sich ein von Stereotypen und Klischees gekennzeichnetes und nicht der Realität entsprechendes mediales Abbild unserer Gesellschaft, das breite Bevölkerungsgruppen nach wie vor marginalisiert – voll von z. T. offen rassistischen, antisemitischen und antiziganistischen, oft aber auch unbewussten und strukturellen Diskriminierungsformen. Aufgabe der Filmbildung ist es, diese Bilder zu erkennen, als kritisch einzuordnen und ihnen entgegenzuwirken.

Wie kann Filmbildung Kinder und Jugendliche empowern? Wie kann sie eine Auseinandersetzung mit diskriminierenden Bildern, Narrativen und Produktionsbedingungen führen? Und wie kann Filmbildung auf die Arbeit von Filmschaffenden zurückwirken? Das sind nur einige der Fragen, mit denen sich die Akteur*innen der Filmbildung heute konfrontiert sehen. „Möge ein Signal des Aufbruchs von Hamburg ausgehen“[2], mit diesem Wunsch schloss Leopold Grün, Geschäftsführer der Vision Kino, sein Grußwort zum Kongress und lud zu einem schonungslosen, aber zugewandten Austausch zu (u. a.) diskriminierungskritischen Fragen der Filmbildung ein.

Filmbildung und die kollektive Erinnerung

Der Eröffnungsfilm des Kongresses, Delegation von Asaf Saban, zeigt eine Gruppe israelischer Jugendlicher im Alter von 16 Jahren in Begleitung ihrer Lehrkräfte und eines Zeitzeugen auf Klassenfahrt zu den Vernichtungslagern Majdanek und Auschwitz-Birkenau in Polen. Der Coming-of-Age-Film oszilliert zwischen erster Liebe, Freundschaft und Gruppendynamik der Jugendlichen und den gemeinsamen Besuchen der Orte des NS-Völkermordes an den Juden. Mit großer Wucht begibt er sich in das konfrontative Spannungsfeld zwischen dem individuellen Teenagerdasein seiner Protagonist*innen und den Dimensionen der kollektiven Erinnerung und führt mit seiner unkonventionellen Art mitten in einen der zentralen Diskurse auf dem Kongress – den Diskurs über die Möglichkeiten und Aufgaben lebendiger diskriminierungskritischer Filmbildung.

Auf dem Panel Empowerment, Sensibilisierung, Repräsentation: Möglichkeiten diskriminierungskritischer Filmbildung wurde deutlich, dass der Wandel in der Film- und Bildungslandschaft mutige und beharrliche Akteur*innen braucht, um existierende Stereotype aufzubrechen und sowohl sensibilisierte Bedingungen für eine kompetente rassismus-, antisemitismus- und antiziganismuskritische Filmvermittlung zu etablieren als auch für ein die ganze Vielfalt unserer Gesellschaft abbildendes Filmschaffen einzustehen.

In der Konfrontation mit der schier unglaublichen Menge an Bewegtbildern und deren Verbreitungsformen in und außerhalb des digitalen Raumes zeigen sich tief verwurzelte Stereotype und Glaubenssätze unserer Welt. Aber auch die Abwesenheit bestimmter Bilder und Narrative in Kino- und Fernsehproduktionen bei gleichzeitiger Anwesenheit der immer gleichen deutschen Mittelstandsbilder steht für erstarrte Sehgewohnheiten und restauriert diese letztlich. Sie alle sind Abbild und Spiegel gesellschaftlicher Prozesse, Stagnationen und Machtverhältnisse.

Hamze Bytyçi, Filmvermittler und Künstlerischer Leiter des AKE DIKHEA? Festival of Romani Film, setzte sich dafür ein, dass die Vielfalt in unserer Gesellschaft im Film sichtbarer wird. „Unbekannt macht unbeliebt“[3], zitierte er Zoni Weisz, Sinto und einer der letzten Überlebenden des Holocausts. Die wenigen Geschichten, die bereits existierten und von anderen über Sinti und Roma erzählt worden seien, seien geprägt von Exotismus. Deshalb sei es wichtig, „dass wir unsere eigenen Geschichten erzählen können“[4]. Bytyçi attestierte der Filmbranche einen beginnenden Wandel, auch wenn sich dieser nicht immer freiwillig vollziehe. Doch strukturell gebe es noch erheblichen Veränderungsbedarf. Der Filmvermittler sprach von einem immer noch existenten „Kolonialismus in den Köpfen“, von Bildern und Stereotypen, die sich tief in unser kollektives Gedächtnis gefressen hätten, nicht nur in die Köpfe der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch in die marginalisierter Gruppen. Diese gelte es mit viel Beharrlichkeit aufzubrechen.

Sheri Hagen, Schauspielerin, Regisseurin und Filmproduzentin, stellte auf dem Podium des Eröffnungspanels Aufblende: Zurück in die Zukunft heraus, dass „Menschen, die in unserem Land nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören, in Filmproduktionen nach wie vor absolut unterrepräsentiert sind“[5]. So bekämen die Lebensrealitäten von Schwarzen Menschen, Sinti und Roma sowie anderer marginalisierter Gruppen immer noch nicht hinreichend Raum. In ihrer Laufbahn als Filmschaffende sei sie fast ausschließlich stereotyp aufgrund ihrer Hautfarbe besetzt worden. In den letzten 20 Jahren sei zwar viel geredet, aber letztlich wenig bewegt worden in der Filmbranche. Hagen beschrieb die Zustände als systemisch, strukturell und von etablierten Machtdiskursen getragen. Um das nicht länger stumm hinzunehmen, fordert die Schauspielerin schon seit Jahren eine Debatte, die die Praxis in der Filmbranche diskriminierungskritisch hinterfragt und eine längst überfällige Veränderung bewirken könnte. Als Teil der Schwarzen Filmschaffenden e. V. trat Hagen dafür ein, dass ihre vielfältigen Lebensrealitäten facettenreich widergespiegelt werden: „Für uns gibt es Diversität nur auf intersektionaler Basis.“[6]

Repräsentation, Sensibilisierung und Empowerment

Jeder Rezeptionsprozess ist letztlich eine Reibung der individuellen und kollektiven Bilder mit unseren individuellen und kollektiven Erlebnissen. Diese Konfrontation für Kinder und Jugendliche so zu begleiten, dass Bilder und Geschichten gelesen und im besten Fall entwicklungsfördernd integriert werden können, ist zentrale Aufgabe der Film- und Medienbildung.

Sie erfordert neben der Vermittlung inhaltlicher, filmgestalterischer und analytischer Aspekte vor allem Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, Begeisterung zu entfachen, und die Leidenschaft zum Dialog, aber auch einen profunden und diskriminierungskritischen Blick auf die Themen des gesellschaftlichen Wandels, um der Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen und dafür sensibilisieren zu können.

Mit dem Projekt Film Macht Mut hat Vision Kino 2021 ein durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) unterstütztes Bildungsangebot etabliert, das sich an die Klassenstufen 1 bis 6 richtet und bewusst in sehr jungen Jahren ein empowerndes Moment setzen will, indem es die Repräsentanz von lebendiger Vielschichtigkeit in der Gesellschaft in diversen filmischen Geschichten aufzeigt und die Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus in das Zentrum der Filmvermittlung setzt. Farnaz Sassanzadeh, Projektkoordinatorin von Film Macht Mut, berichtete auf dem Panel Empowerment, Sensibilisierung, Repräsentation: Möglichkeiten diskriminierungskritischer Filmbildung, wie umfassend die Auseinandersetzung mit den Inhalten des Projekts bei Vision Kino selbst zu einem anhaltenden Prozess der Veränderung geführt hat. Denn ein geschulter diskriminierungssensibler Blick sei eben keine Selbstverständlichkeit – z. T. zeigten die zu erkennenden Bilder Rassismen in aller Deutlichkeit, nicht selten aber seien sie viel sublimer, deshalb aber nicht weniger gefährlich und diskriminierend. Letztlich könne der diskriminierungssensible Blick nur in einem fortgeführten Dialog in vielen kleinen Details erarbeitet und gefestigt werden, oftmals seien die Unterstützung durch Expert*innen und deren Expertise gefragt.

Das „Fishbowl“-Format am dritten Kongresstag hatte zum Ziel, eine für die Filmbildung gewinnbringende Diskussion anzustoßen, die nach Lösungen für den Umgang mit kontrovers rezipierten Filmen sucht. Die Gesprächsgäste und Expert*innen Aida Ben Achour, Trainerin für Interkulturalität und Diversität, Mo Asumang, Autorin und Regisseurin, Vorstand der Deutschen Filmakademie, und Sonja Collison, Landeskoordinatorin Film Macht Mut Hamburg und Schleswig-Holstein, zeigten anhand der Filme Der vermessene Mensch und Helt super die Rassismen reproduzierende Dimension der filmischen Beiträge auf. In der Stichhaltigkeit ihrer Begründungen, besonders im Hinblick auf die akute Gefahr von Re­traumatisierung, wurde deutlich, wie entscheidend die Expertise von Expert*innen für die eigene Sensibilisierung sein kann. Offen blieb die Frage, wie wir über Filme sprechen können, die aufgrund diskriminierender Szenen in der Filmbildung keinen Platz haben sollten.

Die Panels und vertiefenden Workshops zu diskriminierungskritischen Aspekten der Filmbildung waren von einem sehr offenen Dialog getragen und präsentierten den Prozess der eigenen Sensibilisierung als eine der notwendigen Voraussetzungen dafür, bisher unentdeckte diskriminierende Repräsentationen in Filmen lesen und dechiffrieren zu können. Dazu braucht es ein manchmal auch durchaus schmerzliches Maß an Bereitschaft, eigene blinde Flecken, versteckte Stereotype und Mikrorassismen, die sich vermutlich in vielen von uns gesellschaftlich und kulturell bedingt niedergeschlagen haben, aufzuspüren und im Dialog transparent zu machen. Solche Prozesse fördern die Sensibilität und Entscheidungsfähigkeit darüber, welche Bilder und Geschichten in die Filmbildung gehören und welche nicht. Das ist durchaus von zentraler Bedeutung und bildet die Basis für eine klare Haltung und differenzierte Handlungskonzepte.

Die nach wie vor beste Art, für diskriminierungskritische Aspekte zu sensibilisieren und zu empowern, ist die Arbeit mit Positivbeispielen.

Bei Filmbildern mit problematischen Inhalten gilt es abzuwägen, ob sie sich eignen, darüber so ins Gespräch zu kommen, dass für deren Wahrnehmung sensibilisiert, ihnen entgegengewirkt und ein empowerndes Moment herausgearbeitet werden kann oder ob die Gefahr einer Reproduzierung traumatischer Narrative gegeben ist.

Letztlich können Vermittler*innen und Lehrkräfte ihre Haltung immer wieder neu auch im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen schärfen, denn Film- und Medienbildung ist – so eine der Einstiegsthesen auf dem Kongress Vision Kino 23: Zurück in die Zukunft – keine Einbahnstraße. Es geht um einen Dialog in beide Richtungen. Gelingt dieser Dialog, kann er eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und antiziganistischen Bildern und Narrativen fördern, Kinder und Jugendliche empowern und schließlich in die Gesellschaft zurückwirken.

Der Kongress in Hamburg bot ein breites und lebendiges Podium dafür, solche Denk- und Dialoganstöße in der eigenen Auseinandersetzung tiefer zu verankern und den Diskurs in andere Foren mitzunehmen.
 

1Holighaus, A.: Filmkompetenz-Erklärung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und Filmförderungsanstalt FFA (Hrsg.): Materialsammlung zum Kongress Kino macht Schule 2003. Filmpolitischer Kongress der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und der Filmförderungsanstalt (FFA) 20.–21.03.2003, Hotel Palace, Berlin. Bonn 2003, S. 4–6

2Grün, L.: Grußwort zum Kongress Vision Kino 23: Zurück in die Zukunft. Katholische Akademie Hamburg, 05.–07.06.2023

3. Zoni Weisz in: M. Bertsch: Der vergessene Holocaust. Deutschlandfunk, 11.06.2018. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de

4Hamze Bytyçi im Gespräch auf dem Kongress Vision Kino 23: Zurück in die Zukunft

5. Sheri Hagen auf dem Podium zu Aufblende: Zurück in die Zukunft auf dem Kongress Vision Kino 23

6. Sheri Hagen im Interview mit Canan Turan. Siehe Turan, C.: Sheri Hagen über Diversität, die „künstlerische Freiheit“ und Othering im Film. In: Vision Kino, 28.03.2023. Abrufbar unter: https://www.visionkino.de

Autor

Dirk Uhlig arbeitete bereits seit 2007 als freier Gestalter eng mit dem Medienpädagogik-Team der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) für die Entwicklung und Umsetzung der Projekte Krieg in den Medien und Faszination Medien zusammen. Seit 2017 gehört er zum festen Team der Medienpädagogik der FSF. Nebenbei ist er als freier Dokumentarfilmschaffender tätig.

[Bild: privat]
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