Zahlen / Fakten

Viel Wille, kein Weg

Diversity im deutschen Journalismus

Neue deutsche Medienmacher*innen (NDM)

09/2020

Eine Recherche über interkulturell vielfältiges Medienpersonal in deutschen Redaktionen und die Ansichten von Führungskräften im Journalismus zu Diversity in den Medien.

Geschlossene Gesellschaft in der Chefredaktion

Chefredakteur*innen in Deutschland wünschen sich vielfältigere Teams in den Redaktionen, scheuen sich aber vor konkreten Diversity-Maßnahmen. Doch die Öffnung der Medienhäuser geschieht nicht von selbst. Deutschland ist ein Einwanderungsland? Nicht in den Chefetagen deutscher Massenmedien. Das ist die ernüchternde Erkenntnis der vorliegenden Untersuchung. In dieser wurde zum ersten Mal erhoben, wie viele Chefredakteur*innen hierzulande einen Migrationshintergrund haben.[1] Das Ergebnis: Es sind 6 %. 118 von 126 befragten Chefredakteur*innen der reichweitenstärksten Medien sind Deutsche ohne Migrationshintergrund.

Und unter den sechs Chefs und zwei Chefinnen, die mindestens einen nicht-deutschen Elternteil haben, stammt die Hälfte aus Nachbarländern Deutschlands und die andere Hälfte aus EU-Mitgliedsstaaten. Besonders diskriminierte Gruppen sind hier überhaupt nicht vertreten – kein Chefredakteur und keine Chefredakteurin, der oder die schwarz ist, aus einer muslimisch geprägten Familie oder einer den größten Einwanderergruppen (türkisch, polnisch, russischsprachig) stammt. Nach immerhin sechs Jahrzehnten Arbeitsmigration aus den Mittelmeerstaaten und mehr als vier Jahrzehnten Fluchtmigration nach Deutschland.

Zum Glück hat sich jenseits der Chefetagen einiges bewegt. Die Zeiten, als in den 80er-Jahren migrantische Journalist*innen fast undenkbar, in den 90er-Jahren exotisch und in den Nuller-Jahren des 21. Jahrhunderts Vorreiter waren, sind vorbei. In vielen deutschen Publikationen lesen und in vielen Programmen hören und sehen wir heute Kolumnist*innen und Reporter*innen, Nachrichtensprecher*innen und Moderator*innen, die in Einwandererfamilien aufgewachsen sind. Dass es mehr prominente migrantische Mediengesichter gibt, sagt aber noch nichts darüber aus, wie gut Medienschaffende, die aus den Einwanderercommunitys in unserem Land stammen, in der Breite des journalistischen Alltagsgeschäfts vertreten sind. Und auch nicht, ob ihr Anteil in den Redaktionen jenem in der Bevölkerung entspricht. Jede*r Vierte in Deutschland hat nämlich einen Migrationshintergrund.

Diversity – eine Frage der Demokratie

Die Demokratie braucht Journalist*innen, die die Menschen informieren und damit die politische Meinungsbildung ermöglichen. Je gleichförmiger und homogener Redaktionsteams gestaltet sind, desto schwerer dürfte es fallen, bei dieser Arbeit vielfältige Perspektiven und Themen der Gesellschaft vorurteilsfrei aufzugreifen; je diverser, je pluraler, desto besser gelingt das. Gerade aufgrund des besonderen, verfassungsrechtlichen Auftrags der Medien ist die Frage der Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen im Journalismus auch eine Frage der Demokratie und der Zugangsgerechtigkeit. Diesen Thesen folgend entspinnt sich seit über 20 Jahren in Deutschland eine Auseinandersetzung zu der Frage, ob und wie der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Journalismus erhöht werden kann und sollte. Es ist eine Debatte, die ebenso in anderen Einwanderungsländern stattfindet und die hierzulande die Fachkreise verlassen hat. Es gibt jedoch zu diesem Thema relativ wenig Forschung.[2]

Ziel dieser Untersuchung ist es daher, durch die Befragung der Chefredaktionen deutscher Massenmedien (Print, Rundfunk, Online) herauszufinden, welche Daten über den Anteil der Journalist*innen mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Häusern aktuell vorliegen. Wie schätzen diese die Resolution des Deutschen-Journalistenverbandes (DJV) ein, dass „sich die Zusammensetzung der Gesellschaft auch in den Redaktionen widerspiegeln“ müsse?[3] Und welche Maßnahmen ergreifen sie, um dieses Ziel zu erreichen?

Beide Recherchen sind mit Unterstützung von Prof. Dr. Christine Horz, Technische Hochschule Köln[4] entstanden und werden in der Studie aus wissenschaftlicher Sicht[5] und aus der Perspektive der Neuen deutschen Medienmacher*innen betrachtet.

Fast alle wollen vielfältigere Redaktionen

Ein wichtiger Befund ist, dass die Forderung nach diverser besetzten Redaktionen mittlerweile von den meisten befragten Chefredakteur*innen und Redaktionen geteilt wird. Zwei Drittel derjenigen, die geantwortet haben, unterstützen die entsprechende Resolution des DJV. Ein Teil nimmt eine neutrale Haltung ein, weniger als 10 % lehnen sie ab.

Damit gilt in den meisten deutschen Chefredaktionen: Die Arbeit von Journalist*innen aus Einwandererfamilien ist wichtig, einerseits um Diskriminierung zu überwinden, andererseits um ein besseres journalistisches Produkt zu erhalten.

Konkrete Maßnahmen und Strategien zur Gewinnung von Personal mit Einwanderungsgeschichte bleiben aber nach wie vor die Ausnahme. Die meisten Chefredakteur*innen betonen, dass die Qualifikation allein dafür ausschlaggebend sei, ob jemand eingestellt werde oder nicht. Wer gut sei, setze sich auch ohne besondere Maßnahmen der Medienhäuser durch. Obwohl sie interkulturelle Kompetenzen als Pluspunkt anerkennen, suchen sie nicht gezielt nach Mitarbeiter*innen, die diese mitbringen.

Viele Befragte unterstellen, dass mangelndes Können bei Journalist*innen mit Migrationsgeschichte entscheidend sei, wenn es nicht klappt, und schließen eine eigene Verantwortung aus. Die seit langem bekannte soziologische Erkenntnis, dass Entscheider*innen meist Menschen einstellen, die ihnen ähnlich sind, wird weitgehend ignoriert. Die Betonung von Qualifikation als einzigem Kriterium schließt jedoch einen professionellen Umgang mit Phänomenen wie „unconscious bias“ (unbewusste Vorurteile) aus.[6] Würden allein Eignung und Befähigung über Einstellungen entscheiden, wäre kaum zu erklären, warum Frauen bis vor einigen Jahren keine entscheidenden Rollen in Medienhäusern einnehmen konnten.[7]

Um beurteilen zu können, wie weit die Öffnung der Redaktionen für Medienschaffende aus Einwandererfamilien gediehen ist, fehlt die Datenbasis. Denn der Anteil der Journalist*innen mit Migrationshintergrund wird nach wie vor nicht systematisch erfasst. Häufig mit Verweis auf den Datenschutz. Wenn die befragten Chefredakteur*innen dazu Angaben machen, dann sind das Schätzungen, die nicht verifiziert werden können. Bei diesen Schätzungen wird oft selbstkritisch eingeräumt, dass der Anteil relativ gering sei.

Offen für Vielfalt, aber nicht für Maßnahmen

Ein Widerspruch prägt daher den aktuellen Umgang mit Vielfalt in deutschen Redaktionen: Die Stimmung ist positiv, die Unterstützung für die Forderung nach einer Öffnung der Redaktionen ist größer denn je. Die meisten Chefredakteur*innen sagen, sie wollen mehr dafür tun. Konkrete Zahlen zu erheben und darauf basierende Maßnahmen einzuleiten, lehnen die meisten allerdings ab. Wie aber soll es gelingen, deutsche Redaktionen durch Journalist*innen mit diversen Hintergründen vielfältiger zu gestalten, ohne eine entsprechende Strategie? Viele deutsche Medien werden damit den Anschluss an die Zukunft der deutschen Einwanderungsgesellschaft verlieren.

Dabei zeigen Best-Practice-Beispiele, wie es geht. Wer sich ein ehrliches Bild von seinem Betrieb machen will, kann das auch tun. In Großbritannien und Irland werden zumindest im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einer Selbstverständlichkeit die Herkunft der Mitarbeiter*innen erhoben und Zielmarken für deren Repräsentation gesetzt, wie dies bei uns in Deutschland bislang nur in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen üblich ist. Auch Bundesbehörden erheben mittlerweile die Vielfalt in ihren Belegschaften, ohne dass dabei der Datenschutz beeinträchtigt wird. Und wer diverses Personal gewinnen will, muss neue Instrumente in die Hand nehmen. Der Hessische Rundfunk wirbt in einem Online-Video mit einem afrodeutschen jungen Mann um Bewerber*innen für ein Volontariat. Die Überschrift lautet „Journalist*innen der Zukunft gesucht“ – closed shop war gestern.[8]

1. Die Neuen deutschen Medienmacher*innen haben die Recherche selbstständig und ehrenamtlich begonnen. Die E- Mail-Umfrage fand von Februar bis August 2019 statt und wurde im Herbst 2019 ausgewertet. Alle wissenschaftlichen Interviews wurden bis Ende 2019 geführt. Im Verlauf des Projekts konnte die Google News Initiative als Förderer gewonnen werden, die in den USA die breite jährliche Diversity-Erhebung von Journalist*innen der American Society of News Editors (ASNE) unterstützen.

2. Vgl. Horz, Christine (2020): Wie divers sind deutsche Medien?, S. 28 ff., in der vorliegenden Publikation.

3. Deutscher Journalistenverband (2018): Mehr Vielfalt in Redaktionen vom 05.11.2018, www.djv.de/startseite/service/news-kalender/detail/aktuelles/article/mehr-vielfalt-in-redaktionen.html (abgerufen am 16.04.2020).

4. Prof. Dr. Christine Horz hat die Professur für Transkulturelle Medienkommunikation an der Technischen Hochschule Köln inne. Ihr Lehrstuhl ist am Institut für Translation und Mehrsprachige Kommunikation angesiedelt (ITMK), welches zur Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften gehört.

5. Vgl. Horz, Christine (2020): Wie divers sind deutsche Medien?, S. 24-48, in der vorliegenden Publikation.

6. Vgl. Ziegert, Jonathan C.; Hanges, Paul J. (2005): Employment Discrimination: The Role of Implicit Attitudes, Motivation, and a Climate for Racial Bias, Journal of Applied Psychology, Vol. 90, No. 3, May 2005, S. 553-562; vgl. Kaas, Leo; Manger, Christian (2010): Ethnic Discrimination in Germany‘s Labour Market: A Field Experiment, IZA Discussion Papers, No. 4741, Institute for the study of labor, Bonn.

7. Vgl. Garmissen, Anna von; Biresch, Hanna (2019): Welchen Anteil haben Frauen an der publizistischen Macht in Deutschland? Eine Studie zur Geschlechterverteilung in journalistischen Führungspositionen Teil II: Presse und Online-Angebote, www.pro-quote.de/wp-content/uploads/2019/11/ProQuote-Studie_print_online_digital-2019.pdf (abgerufen am 17.04.2020); vgl. Garmissen, Anna von; Biresch, Hanna (2018): Welchen Anteil haben Frauen an der publizistischen Macht in Deutschland? Eine Studie zur Geschlechterverteilung in journalistischen Führungspositionen Teil I: Rundfunk, www.pro-quote.de/wp-content/uploads/2018/11/ProQuote_Medien_Monitoring_online_1.pdf (abgerufen am 17.04.2020).

8. Hessischer Rundfunk (2019): Journalist*innen der Zukunft gesucht, www.hr.de/karriere/alle-angebote/volontariat/volontariat-journalistin,ausbildung_journalist-100.html (abgerufen am 17.04.2020).

Eine Studie von

Die Neuen deutschen Medienmacher*innen (NDM) sind ein bundesweiter Zusammenschluss von Medienschaffenden mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die sich als gemeinnütziger Verein seit 2008 für mehr Vielfalt in den Medien und Einwanderungsperspektiven im öffentlichen Diskurs einsetzen. Das Netzwerk ist politisch unabhängig, nationalitäten- und konfessionsübergreifend. Zu den NDM zählen sich über Tausend Medienschaffende aus ganz Deutschland. Sie arbeiten als feste und freie Journalist*innen für deutsche Medien – in Print, Online, TV und Hörfunk.

[Logo: Neue deutsche Medienmacher*innen]