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Gangsta-Rap in der Schule

Chancen für den schulischen Umgang mit Rap-Songs

Markus Sator

in: „Gangsta-Rap – eine Studie zur Rezeption von Schülerinnen und Schülern der Sek I“, 2016,
überarbeitet 05/2020

Die Vielfalt, die sich in den Rezeptionsmöglichkeiten des Rap findet, wird von den meisten Jugendlichen vermutlich aufgrund fehlender Kompetenzen nicht vollends ausgeschöpft. Dies und das große Interesse der Schüler*innen am Gangsta-Rap können als Chance für den schulischen Umgang mit Rap-Songs gesehen werden. Die Multimedialität der Rap-Songs und insbesondere die Nähe zu lyrischen Texten eröffnen mannigfache Wege zur Erschließung dieser Kunstwerke.

Die Verbindung und Analogisierung vom Sprechgesang oder Rap mit lyrischen Formen der Vergangenheit eröffnet eine schülerorientierte Zugangsvariante zur Lyrik, die sich an den Erlebniswelten der Jugendlichen orientiert und so emotionale sowie kognitive Elemente verbindet und fruchtbar für den Literaturunterricht macht (Blume 2014-03, 1).[1]

Der Gymnasiallehrer und Rap-Experte Bob Blume ist überzeugt, dass mit dem Rap Zugänge zur Lyrik geschaffen werden können, die Jugendliche ansprechen. Anhand des Gangsta-Rappers Kollegah, beliebtester Rapper einer Erhebung unter Jugendlichen und Blume zufolge der wortgewaltigste deutsche Rapper, zeigt er auf, „dass man alleine mit diesem Rapper die große Erkenntnis leisten könnte, wie sich Sprache und Form ergänzen“.[2] Allerdings stehe man als Lehrkraft vor dem Problem, dass es von Kollegah „so gut wie keine Lieder [gebe], die zweifelsfrei jugendfrei wären.“ Blume bedauert, dass aus diesem Grund Kollegahs Texten wohl kein Zutritt in die Schule gewährt werde, und sieht Alternativen in Rappern wie Cro, Casper oder Alligatoah mit weniger obszönen, aber thematisch mehrdimensionaleren Texten.

Die Zeit der Pubertät ist eine kritische Phase hinsichtlich der literarischen Sozialisation der Jugendlichen (vgl. Garbe 2013, 29f.). Viele, meist männliche, Jugendliche erfahren eine Lesekrise, die in einen Abbruch der bisherigen Leseentwicklung münden kann. Garbe zufolge „richtet der traditionelle Literaturunterricht [in dieser Phase] oft großen Schaden an“. Vor allem in der Hauptschule, wo man es häufig mit Schüler*innen aus „schriftfernen Lebenswelten“ zu tun habe, verfehle einer Studie zufolge der Deutschunterricht seine Adressaten auf ganzer Linie.[3]

Eine große Chance des Deutschunterrichts sieht Garbe in der zentralen Rolle, die der „Anschlusskommunikation“ in den Prozessen einer gelingenden literarischen Sozialisation zukomme. Hier gebe es vielfältige Möglichkeiten, „solche Kommunikation schüler- und sachgerecht zu gestalten.“ Darüber hinaus müsse es sich die Schule in Zukunft zur Aufgabe machen, neben der Förderung der literarischen Kompetenz auch „die multifunktionalen Medien verstärkt an Kinder und Jugendliche aus niedrigem Bildungsniveau“ heranzutragen, das heißt deren Medienkompetenz zu fördern.

Der Umgang mit Rap-Songs bietet zudem Möglichkeiten, die Medienkompetenz der Schüler*innen zu fördern. Ungeachtet des hehren Zieles einer Produktion und Veröffentlichung eigener Songs bietet gerade die Anschlusskommunikation die Chance, den Umgang mit Online-Plattformen wie YouTube zu erlernen. Bezüglich der Kommunikation in Onlineforen haben nicht nur Jugendliche große Schwierigkeiten, grundlegende Anstandsregeln einzuhalten. Dies wird nicht nur bei politischen Themen offenbar, sondern auch beim Austausch über Musiker und deren Werke. Hier kann die gemeinsame und begleitete Reflexion über Rap-Songs genutzt werden, soziale Umgangsformen beim Kommentieren einzuüben.

Letztendlich kann allerdings mehr erreicht werden, als nur die Kompetenzen der Jugendlichen zu fördern. Wie es scheint, bietet Rap-Musik die Chance, Schüler*innen auf motivierende Weise in die Lyrik einzuführen oder zumindest zur Lyrik hinzuführen. Die Parallelen zwischen Rap und Lyrik, die den Ergebnissen der Studie zufolge auch ein Großteil der Schüler*innen erkennt, liegen auf der Hand. Vor allem in den Reimen und Vergleichen der Punchlines finden sich große Ähnlichkeiten zu lyrischen Formen. Blume (Blume 2014-05) geht sogar so weit, dass diese „Kunstwerke der Wortakrobatik [...] mit den bisher bekannten rhetorischen Mitteln [oftmals nicht] erklärt werden können“.

„(...)
die Kalaschnikow macht brät
während ich die Kugeln in dein Kopf hau
di nahuj bljat, direkt erster Haken aus Moskau
Pablo Escobar-Effekt, koks ne Line, schnupf' ne Nase nachdem die getönten Scheiben runtergehen
hol ich die Scheiben runter vom Laden
drive-By aus dem schwarzen Jeep!
welcher Hurensohn will mit den Kurden Stress? skrupellos, nur Arrest. Koch das pure Coke
tick an deinen Bruder Crack
komm mir nicht mit Reden, yok muhabbet
die Straße spricht du Faschist
bin zwar Arier wie Saladin, doch Haft fickt dich du Rassist Au-Au-Automatik Machine Guns. Die Uzis sind zwar aus Tel Aviv doch Hafti macht für die Achis á la Habibi free Palestine
es ist Hafti Abi, achi. Zu nem Schwanz gehört Cojones
38Er an den Eiern, Hurensöhne sind Willkommen
(...)“

Haftbefehl: Russisch Roulette
Songwriter: Anhan Aykut, Benjamin Bazzazian
[Songtext: Universal Music Publishing Group]

Der Rapper Haftbefehl, aus dessen Feder der oben abgedruckte Songtext aus dem Album Russisch Roulette stammt, ist nach Daniel Haas der deutsche Dichter der Stunde und fordere die zeitgenössische Dichtung heraus.[4]

Während manche*r Kulturbürger*innen noch vor den verheerenden Auswirkungen der Rap-Songs auf die Jugend warnt, geben sich andere „viel Mühe mit [einer] sozialdemokratischen Auslegung“ und titulieren das oben genannte Werk mit Begriffen wie „Krisenwerk!“ oder „Sozialchronik!“. Nur wenige aber erkennen wie Haas das literarische Potential im Rap. Haas setzt Haftbefehls Texte mit Literatur gleich und konstatiert, dass sich deutsche Autor*innen zukünftig an der Sprachmacht des Deutschkurden abarbeiten müssten.

Verlan (2007, 516-517) merkt an, dass wesentlich mehr Jugendliche durch Rap und Slam-Poetry zur Literatur gestoßen seien als durch zeitgenössische Lyrik. Er fragt sich, ob nicht die hohen Ansprüche der E-Kultur, „das Streben nach immer komplexeren, abstrakteren, intellektuelleren Darstellungsformen von Wirklichkeit“ dafür verantwortlich seien, dass der Kontakt zwischen Literatur und den Lesenden abgebrochen ist. Er fordert „eine neue Rezeptionsästhetik“ für die Frage, was Literatur oder Kultur im Allgemeinen bei jungen Menschen bewirkt.[5]

Um die von Blume genannte „Verbindung und Analogisierung vom Sprechgesang oder Rap mit lyrischen Formen der Vergangenheit“ gelingen zu lassen, bietet es sich an, einen Rap-Song wenn möglich so auszuwählen, dass er in eine thematische Sequenz zum Beispiel über Freiheit, Liebe oder das Leben in der Stadt mit anderen Textformen eingebunden werden kann.[6]

Allerdings ist gerade die Auswahl geeigneter Rap-Titel ausschlaggebend für das Gelingen des Vorhabens. Einerseits muss die Lehrkraft einschätzen, welche Art von Rap-Song sie Schüler*innen wie Eltern zumuten sowie vor Kolleg*innen rechtfertigen kann. Andererseits muss der Titel, der möglichst unter Beteiligung aller Schüler*innen ausgewählt wird, thematisch und formal geeignet sein.

Blume (2014-03, 1) schlägt diesbezüglich fünf Auswahlkriterien vor. Die „Relevanz des Inhalts“ sei das ausschlaggebende Kriterium für die altersspezifische Beschäftigung mit dem Rap. Die „Originalität“ eines Textes stehe für das Potenzial einer neuen Erkenntnis. „Leerstellen“ böten im Sinne des Konzepts der Handlungs- und Produktionsorientierung Möglichkeiten des kreativen Umgestaltens. „Formale Elemente“, wie zum Beispiel Reime, ermöglichten Zugänge zu anderen literarischen Formen wie der Lyrik. Im Sinne der „Kohärenz“ sei letztlich wichtig, dass der Rap-Text eine für die Schüler*innen strukturell nachvollziehbare Form aufweise.

Bezüglich der Umsetzung von Unterrichtssequenzen, die Rap-Songs mit einschließen, sei hier auf Spinner verwiesen, der in seiner Lyrik-Didaktik „Umgang mit Lyrik“ Vorschläge für einen schüler*innennahen, kreativen Umgang mit Gedichten unterbreitet. Die produktiv-kreativen Unterrichtsmethoden, die er zur Diskussion stellt, sind von entscheidender Bedeutung, die bei den Schüler*innen bereits vorhandene Motivation, Rap-Texte zu analysieren, nicht im Keim zu ersticken.

Ziel des schulischen Umgangs mit Rap-Songs muss es sein, dass die Schüler*innen trotz Übernahme eines ihrer Privatvergnügen in den Schulunterricht die Freude daran nicht nur bewahren, sondern durch erhöhtes ästhetisches Wahrnehmungsvermögen zukünftig noch mehr Genuss bei der Rezeption von Rap-Songs empfinden können.

1. Blume, Bob: Rap im Unterricht: Wir hol’n zurück, was uns gehört, in: Bob Blume vom 17.03.2014, http://bobblume.de/2014/03/17/rap-im-unterricht-wir-holn-zurueck-was-uns-gehoert/ (abgerufen am 10.04.2020).

2. Blume, Bob: Kollegah in die Schule, in: Bob Blume vom 11.05.2014, http://bobblume.de/2014/05/11/kollegah-in-die-schule/ (abgerufen am 10.04.2020).

3. Garbe, Christine: Literarische Sozialisation – Mediensozialisation, in: Frederking, Volker et. al. (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts, Bd. 2, Baltmannsweiler 2013, S. 23-42.

4. Haas, Daniel: Gib dir die Kugel. Der Rapper Haftbefehl ist der deutsche Dichter der Stunde, in: ZEIT ONLINE vom 27.11.2014, www.zeit.de/2014/49/haftbefehl-csu-wahlkampf-plakat (abgerufen am 10.04.2020).

5. Verlan, Sascha: Zwischen Mythos und Wirklichkeit. Die Sprachkultur des Rap, in: Ackermann Gregor et.al. (Hrsg.): Deutsches Lied. Volume 2. Vom Niedergang der Diseusenkultur bis zu Aggro Berlin, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007.

6. Spinner, Kaspar H.: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I, Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2000.

Autor

Markus Sator veröffentlichte 2016 eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema Gangsta-Rap – eine Studie zur Rezeption von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I. Als Autor entwickelt er Beiträge und Lehrmaterial für Medienradar.

[Bild: privat]
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