Artikel

Inszenierungsstrategien im deutschen Gangsta-Rap

Symbolik und gesellschaftlicher Diskurs

Markus Sator

in: „Gangsta-Rap – eine Studie zur Rezeption von Schülerinnen und Schülern der Sek I“, 2016,
überarbeitet 05/2020

Der deutschsprachige Gangsta-Rap oder auch Straßenrap ist geprägt von Gewalt und Sexismus. Die Interpret*innen inszenieren sich häufig als Gangster*innen. Ihre Texte beschreiben das raue und brutale Leben auf der Straße, des Ghettos oder Kiezes und die Allgegenwärtigkeit von Macht, Geld und Gewalt. Straßenrapper*innen schildern in ihren Songs, wie sie trotz schwieriger Kindheit ihren Weg gemacht haben, erfolgreich wurden und zu Reichtum gekommen sind. Themen wie Zuhälterei, Misogynie und Homophobie sind häufig anzutreffende Diskurse. Außerdem liefern sich die Rapper*innen häufig einen Wettstreit, in dem sie sich selbst erhöhen und den*die konkurrierenden Rapper*innen gleichzeitig erniedrigen oder dissen. Dabei setzen die Protagonist*innen oftmals auf ihre eigene Authentizität bezüglich ihres kriminellen Ghettolebens im Gegensatz zu den Widersacher*innen, die dagegen nur eine Kopie des Originals verkörperen. Der Artikel legt offen, aus welchen Narrativen und Mythen sich die Inszenierungsstrategien der Gangsta-Rapper*innen speisen und beleuchtet die polarisierenden Lager des gesellschaftlichen Diskurses über deutschen Gangsta-Rap.

Gangsta-Rap und seine Symbolik

Die Themen des Gangsta-Rap sind männlich dominiert und drehen sich in erster Linie um die gewalttätige Auseinandersetzung minorisierter und marginalisierter Bevölkerungsgruppen – insbesondere solcher afroamerikanischer Abstammung oder ganz allgemein mit Migrationshintergrund – mit ihrer Situation in der Gesellschaft. Dabei geht es immer wieder um den Umgang mit Macht, Geld, Drogen, Kriminalität und Frauen, was sich auch im äußeren Erscheinungsbild der Akteur*innen widerspiegelt.

Wenngleich diese gemeinsamen Themen von der Hip-Hop-Community global geteilt werden, „sind die Rahmenbedingungen szeneorientierten Handelns mit unterschiedlichen lokalen Strukturen verknüpft“ (Schröer 2012, 72). So sind die Lebensverhältnisse einer Großstadt in Deutschland nicht vergleichbar mit denen einer amerikanischen Großstadt. Außerdem ist der Hip-Hop „nicht (mehr) an einen spezifischen kulturellen und ethischen Hintergrund gebunden“ (Schröer 2012, 66). Deutsch-türkischer Hip-Hop zum Beispiel setzt sich nach Ayhan Kaya (2001, 173) aus drei Traditionssträngen zusammen: Zum einen aus der türkischen beziehungsweise anatolischen Kultur, zum zweiten aus den bereits beschriebenen globalen Symbolen und zum dritten aus dem Lebensstil der deutschstämmigen jugendlichen Peer Group vor Ort, an dem sich die Szenemitglieder orientierten. Diese Mischung aus türkischer, deutscher und kosmopolitischer Identität drücke sich unter anderem in der Sprache der Rapper*innen aus. Hip-Hop könne gerade durch „das Hybride, das kulturelle Dazwischen“ (Klein 2011, 70) eine eigene Authentizität schaffen, die aber „in den jeweiligen Kontexten erst hergestellt – und glaubhaft dargebracht werden“ müsse. Ob eine Performance beziehungsweise ein*e Rapper*in als ‘authentisch’ gilt, entscheiden letztendlich weniger die Akteur*innen selbst als deren Rezipient*innen, oder wie es Schröer (2012, 73) formuliert: „Real ist, was als real wahrgenommen wird.“

Da die heutigen realen sozialen Kontexte im Allgemeinen eben nicht mehr die gesellschaftliche Situation der ursprünglichen Hip-Hop-Bewegung widerspiegeln, sorgen Mythen für den notwendigen „authentischen“ Rahmen. Als zentrales Motiv kann hierfür „die Straße“ oder „das Ghetto“ genannt werden. So wie der ursprüngliche Rap seinen Ursprungsort in den US-amerikanischen Ghettos fand, ist auch hierzulande die Rap-Szene in erster Linie mit großstädtischen Problembezirken verbunden. Das Leben „auf der Straße“, „am Block“, „im Ghetto“, „in der Hood“ oder „im Kiez“ wird regelmäßig zum Leitmotiv der Songtexte, und die Musik wird hierbei zu einem möglichen Ausweg aus der Ghettoexistenz stilisiert (vgl. Seeliger 2012, 22).

Für Jugendliche der angesprochenen benachteiligten Stadtteile kann Hip-Hop oder Rap vielfältige Identifikationsmöglichkeiten anbieten und auf die zahlreichen Handlungsmöglichkeiten hinweisen, die trotz Armut vorhanden sind (vgl. Janitzki 2012, 286).

Ein weiterer am Leben gehaltener Mythos ist der*die Rapper*in in seiner*ihrer Rolle als tatsächlich kriminell tätige*r Gangster*in. Im Allgemeinen wird die „extrem polyvalente[n] Figur des »Gangsters«“ (Straub, 11) durch mediale Selbstinszenierungen kreiert und mittels „permanente[m] Aufmerksamkeitsmanagement“ (Schröer 2012, 74) am Leben erhalten. Schröer (2012, 68) konstatiert, dass die Gangster*innen-Rolle nicht nur in den Texten verhandelt wird, sondern auch habituell seine Entsprechung fände. Körperbetonte Selbstdarstellungen, Insignien des Luxus, der Umgang mit Frauen sowie das Betonen von Rücksichtslosigkeit und Stärke seien dafür kennzeichnend. Die beschriebenen Verhaltensweisen und Statussymbole bildeten ein attraktives Rollenmodell für männliche Szenegänger oder sonstige Rezipienten.

Der unter Rapper*innen ständig ausgetragene Wettstreit (Battle) um Authentizität zeigt, wie wichtig es für den Erfolg der Künstler*innen ist, von den Fans als authentisch oder real wahrgenommen zu werden. Eine glaubwürdige Performance erfordere darüber hinaus „einen mehr oder weniger virtuosen Umgang mit dem Medium Sprache“.

Gesellschaftlicher Diskurs

Wenn in Deutschland über Hip-Hop oder Rap diskutiert wird, geht es häufig um die Frage nach seiner Authentizität, dem zentralen Bewertungsmaßstab des Rap. Nach Klein und Friedrich (2011, 70f) gibt es im akademischen Diskurs zwei Fraktionen: die einen, die das Authentische des Rap nur in seinem Bezug zur Ursprungsform anerkennen und die anderen, die „das Hybride, das kulturelle Dazwischen“ als authentische Form des Hip-Hops in einem neuen Kontext verstehen.

Die Medien, die den Diskurs um die Authentizität des deutschen Rap bestimmten, folgten nach Klein und Friedrich eher der Ursprungstheorie, die auf die „verbindende Kraft des Ethnischen“ abhebe. Danach könnten ausschließlich ethnische Minderheiten – zum Beispiel türkische Jugendliche aus türkischen Innenstadtghettos – authentischen Rap repräsentieren. So tragen die Medien ihren Teil dazu bei, den Weg für die vielen deutschen Rapper*innen mit Migrationshintergrund zu ebnen.

Untrennbar verbunden mit dem Wesen und dem Erfolg der Rapszene ist die Verachtung, ja Dämonisierung durch die bildungsbürgerliche Elite. Angesichts der zum Teil grenzwertigen Wortwahl in den Songs mag es nicht verwundern, dass von Seiten der Politik, der Medien, der Eltern und Pädagog*innen auch ohne bildungsbürgerliche Voreingenommenheit große Vorbehalte dem Gangsta-Rap gegenüber bestehen. Die Diskussionen, die hier stattfinden, sind vergleichbar mit denjenigen, die bezüglich des Konsums von Horror- und Pornofilmen sowie von Computer-Gewaltspielen geführt werden. Es wird befürchtet, „dass Rap per se Gewalt verursache oder Sexismus unter Jugendlichen salonfähig mache“ (Saied 2012, 104). Entsprechend wurden immer wieder Rap-Songs wegen ihres jugendgefährdenden Inhaltes von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPJM) indiziert (vgl. Hajok 2015, 14).

Diejenigen, die den Gangsta-Rap wegen seiner moralischen Grenzüberschreitungen und den Verstößen gegen die Political Correctness kritisieren, führen als Begründung stets die Gefährdung der Jugend an. Die pauschale Kritik, die einseitigen Betrachtungen und die zum Teil hysterischen Reaktionen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft auf die publizierten Werke der Rap-Szene dürften aber auch darauf zurückzuführen sein, dass die in den Songs verarbeiteten Themen wunde Punkte unserer Gesellschaft berühren: spätestens seit der #MeToo-Debatte wissen wir, dass nicht nur Gangsta-Rapper sexistisch auftreten und handeln, sondern auch angesehene Firmenchefs, Produzenten und Politiker; Studien belegen, dass antisemitische Einstellungen – die Debatte um Antisemitismus im Rap kam auf durch die Aberkennung eines Musikpreises für die Rapper Kollegah und Farid Bang wegen antisemitischer Textzeilen – in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet sind; die Tatsache, dass es kaum bekennende homosexuelle Profifußballer in der Bundesliga gibt, ist ein Beleg dafür, dass Homophobie in unserer Gesellschaft immer noch seinen Platz findet. In Rapsongs werden ungelöste gesellschaftliche Probleme auf explizite Weise angesprochen und sind damit eine Steilvorlage für eine kontroverse, aber auch notwendige Auseinandersetzung.

Mitunter wurde den Medien der Vorwurf gemacht, die in den letzten Jahren zu beobachtende Entwicklung des Gangsta-Rap hin zu immer mehr Gewalt gefördert zu haben. Verlan (2007, 514) sieht in den Entstehungsjahren des deutschen Gangsta-Rap ein verstörendes Zusammenspiel von „selbstverliebten Protagonisten der HipHop-Szene und sensationsgierigen Reportern“, das die erfolgreiche Entwicklung einer sozialkritischeren Form des Rap verhinderte.

Wie empfindlich die Szene auf Kritik von Außen reagiert, konnte man kürzlich anhand der Reaktionen auf eine Rap-Parodie des Moderators Jan Böhmermann beobachten. Böhmermann parodierte in seinem Rap-Video Ich hab Polizei, in dem er auf körperliche Drohungen des Rappers Fler antwortet, den Stil des Gangsta-Rappers Haftbefehl. Das Video, das nach zwei Tagen bereits über zwei Millionen Aufrufe im Netz hatte, entfachte eine hitzige Debatte. Während die Netzgemeinde überwiegend positiv kommentierte, reagierte die Szene selbst zum Teil pikiert. Der Journalist Marcus Staiger, einer der Wegbereiter des Berliner Rap und Chefredakteur der Internetseite rap.de, wirft Böhmermann in einem offenen Brief (vgl. Staiger 2015) standesgemäße Überheblichkeit vor. Böhmermann und das Bildungsbürgertum machten sich über Personen mit Migrationshintergrund und Leute, die weniger Bildung hätten, lustig.

In der Tat darf man bei der Debatte um die Form, Bedeutung und Wirkung des deutschen Gangsta-Rap nicht übersehen, dass die Mehrheit der Musiker*innen einen multikulturellen Hintergrund besitzt und aus sozial benachteiligtem Umfeld stammt. Seit nunmehr zwanzig Jahren kämpfen die Vertretenden des deutschen Rap in einem Land, das sich bis vor Kurzem gegen das Etikett „Einwanderungsland“ vehement wehrte, um Akzeptanz und Selbstermächtigung. Dass die Vertretenden des Gangsta-Rap nun angesichts ihres Erfolges eben dieser Gesellschaft den Stinkefinger zeigen, muss nicht verwundern. Empowerment muss nicht politisch korrekt sein (Davoudvandi in Bovermann 2019). Die Gesellschaft muss den Schmerz der Wundheilung aushalten können.

Dass dies gelingt, dazu könnten Frauen wie Miriam Davoudvandi beitragen. Die Hip-Hop-Journalistin ist eine der wichtigen Stimmen, die sich mit kritischen, feministischen Haltungen innerhalb der Gangsta-Rap-Szene Gehör verschaffen (Bovermann 2019) und damit den journalistischen „fan service“ einiger Reporter*innen bereichern.

Fazit

Das Aufbegehren von Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft findet sich auch heute noch in den Songs deutscher Rapper*innen. Es ist ein Aufbegehren von Personen mit Migrationshintergrund gegen Ausgrenzung und Diskriminierung, ein Aufbegehren von Künstler*innen gegen die kulturelle Bevormundung der bürgerlichen Mehrheit. Diese Rebellion findet ihren Ausdruck im Gesamtauftreten der Rapper*innen und im Besonderen in deren provokativem Sprachstil, der die bürgerlichen Geschmacksgrenzen aufs Äußerste herausfordert und provoziert.

Der gesellschaftliche Diskurs über die Anstößigkeit, Wertigkeit und Authentizität des Gangsta-Rap, aber auch die Entwicklung und Ausrichtung der Rap-Szene selbst wird stark von den Medien gelenkt. So tragen die Medien die Hauptverantwortung, die Entwicklung des Gangsta-Rap hin zu mehr Gewalt gelenkt zu haben. Sozialkritische Strömungen des Rap schafften daher im Gegensatz zum Gangsta-Rap nie den großen kommerziellen Durchbruch. So ist trotz aller Vielfalt der Rap-Szene das Hauptinteresse des Publikums auf wenige Stars der Szene konzentriert.

Bovermann, Philipp: Volle Verstärkung, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.12.2019, https://www.sueddeutsche.de/medien/rap-und-feminismus-volle-verstaerkung-1.4722137 (abgerufen am 30.03.2020).

Hajok, Daniel: Zur Indizierung jugendgefährdender Medien durch die Bundesprüfstelle. Zahlen, Fakten und Tendenzen aus über 60 Jahren, in: BPJM Aktuell 3/2015.

Janitzki, Lena: Sozialraumkonzeptionen im Berliner Gangsta-Rap. Eine stadtsoziologische Perspektive, in: Dietrich, Marc und Seeliger, Martin (Hrsg.): Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 285-308.

Kaya, Ayhan: »Sicher in Kreuzberg«. Constructing Diasporas: Turkish Hip-Hop Youth in Berlin, transcript Verlag, Bielefeld 2001.

Klein, Gabriele & Friedrich, Malte: Is this real? Die Kultur des HipHop, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2011.

Saied, Ayla Güler: Rap in Deutschland. Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen, transcript Verlag, Bielefeld 2012.

Schröer, Sebastian: „Ich bin doch kein Gangster!“ Implikationen und Paradoxien szeneorientierter (Selbst-)Inszenierung, in: Dietrich, Marc und Seeliger, Martin (Hrsg.): Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 65-83.

Seeliger, Martin & Dietrich, Marc: G-Rap auf Deutsch – Eine Einleitung, in: Dietrich, Marc und Seeliger, Martin (Hrsg.): Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 7-20.

Staiger, Marcus: „LIEBER JAN BÖHMERMANN, DEIN ,POL1Z1STENS0HN‘ IST EINFACH NUR STANDESGEMÄSSE ÜBERHEBLICHKEIT“, in: Die Welt vom 27.11.2015, https://www.vice.com/de/article/rmap9y/ein-offener-brief-an-jan-bohmermann-von-marcus-staiger-341 (abgerufen 30.03.2020).

Straub, Jürgen: South Bronx, Berlin und Adornos Wien: Gangsta-Rap als Popmusik – Eine Notiz aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Dietrich, Marc und Seeliger, Martin (Hrsg.): Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 7-20.

Verlan, Sascha: Rap-Texte, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012.

Autor

Markus Sator veröffentlichte 2016 eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema Gangsta-Rap – eine Studie zur Rezeption von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I. Als Autor entwickelt er Beiträge und Lehrmaterial für Medienradar.

[Bild: privat]
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