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Was ist eigentlich desorientierend?

Sozialethische Desorientierung als Risikodimension im Jugendmedienschutz

Brigitte Zeitlmann

Medienradar, 05/2020

Das Gesetz geht von einem hohen Wirkungsrisiko bei Angeboten aus, die im Widerspruch zum Wertekanon des Grundgesetzes stehende Einstellungen und Verhaltensweisen als normal und gesellschaftlich akzeptiert darstellen. Aber was bedeutet das? Einige Beispiele sollen das näher erläutern.

1. Kriegsgeschehen

Wenn Darstellungen von Kriegsgeschehen unzureichend erläutert oder gar einseitig positiv vermittelt werden, dann kann dies Kinder und Jugendliche desorientieren, indem ihnen abträgliche Impulse geboten werden. Eine Heroisierung des Militärs, aber auch Waffenbegeisterung, können Indizien hierfür sein. In diesem Zusammenhang wurde die Präsentation des Kampfhubschraubers Apache in der "Special-Interest"-Dokumentation über Kriegsgeräte vom FSF-Prüfausschuss sehr konträr diskutiert. Ist die Episode auch für jüngere Kinder unter 12 Jahren verkraftbar, da der Kommentar recht nüchtern ausfällt und sich vornehmlich auf das Technische fokussiert? Oder sind sogar 12-Jährige überfordert, da es sich bei dem Kampfhubschrauber immerhin um todbringendes Kriegsgerät handelt, dessen Einsatz jedes Mal hinterfragt werden muss? Ab 12-Jährigen kann bereits ein gewisses Maß an Reflexionsfähigkeit zugetraut werden, auch in Bezug auf Darstellungen von Waffen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Kommentare der Sendung fallen hinreichend sachlich aus; sie konzentrieren sich auf die Technik und Funktionsweise des Kampfhubschraubers. Die Episode wurde schließlich für das Hauptabendprogramm ab 12 Jahren freigegeben.

2. Gewaltgeschehen

Aber nicht nur Kriegsgeschehen, sondern auch die Darstellung von realem oder realitätsnahem Gewaltgeschehen anderer Art kann desorientierend wirken, wenn es, ausgespielt, stark ästhetisiert oder tendenziell glorifizierend umgesetzt wird. Der Musikclip von Eminem nimmt, betrachtet man ihn aufmerksam bis zum Ende, eine stark kritische Haltung gegen den Waffengebrauch in den USA ein und verknüpft dies mit der Perspektive des Amokschützen von Las Vegas. Der Attentäter erschoss am 1. Oktober 2017 von seinem Hotelzimmer aus 58 Besucher*innen eines Musikfestivals und verletzte über 800 weitere Menschen. Der Clip wurde vom Prüfausschuss intensiv und kontrovers diskutiert. Positiv gesehen wurde das wichtige und berechtigte Anliegen (in den USA schärfere Waffengesetze einzuführen), mit dem sich Eminem hier positioniert. Das wird auch im Abspann deutlich, in dem auch auf eine Petition hingewiesen wird und der Spruch „When will this end?“ zu sehen ist. Gegen die Entscheidung, den Clip im Tagesprogramm auszustrahlen, sprach neben einer möglichen ängstigenden Wirkung auch die ambivalente Gewaltästhetik, da das Video auch mit Coolness und einer latenten Gewaltfaszination spielt. Bei aller Grausamkeit des Ereignisses wird hier die Perspektive des Täters eingenommen, was den Zuschauer nachdenklich stimmen soll. Ab 12-Jährigen kann zugetraut werden, diese Komplexität einordnen und reflektieren zu können. Deshalb wurde der Clip ab 12 Jahren für das Hauptabendprogramm freigegeben. Wie bewerten Ihre Schüler die kritische Einordnung? Im Lehrmaterial finden Sie dazu eine entsprechende Aufgabe.

3. Selbstjustiz

Auch Inhalte, die mit dem Rechtsstaatsgedanken nicht in Einklang zu bringen sind, weil sie Folter, Selbstjustiz oder Amtsmissbrauch als legitim darstellen und diese Befürwortung im Kontext keine Relativierung erfährt, werden als desorientierend gewertet. Zwar ist die Serie 24 schon älteren Datums, doch vermag ihre Machart auch heute noch eine gewisse Eindringlichkeit zu vermitteln. In dieser Folge setzt der Hauptprotagonist Jack Bauer mehrfach Folter ein, um an Informationen zu gelangen. Der Ausschuss diskutierte die desorientierende Wirkung durch den Einsatz der Folter, da diese in Anbetracht der Bedrohung als legitim interpretierbar ist. Allerdings sah der Ausschuss in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema die Chance – immerhin ist der US-Präsident entschieden gegen die Folter –, dass auch 12-jähriges Fernsehpublikum diese Art der Verhöre kritisch hinterfragt. Dass Jack Bauer nichtsdestotrotz Folter anwendet, um seine Ziele zu erreichen, ist zweifellos problematisch, zwingt aber auch ältere Kinder, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gerade in dieser Serie wird die Problematik zwischen Täter- und Opferschutz offensichtlich. Das präsentierte Maß an Action ist 12-jährigen Kindern – so der Ausschuss – noch zuzumuten, womit einer Ausstrahlung im Hauptabendprogramm nichts im Wege steht.

4. Diskriminierung

Wann wird Sprache überhaupt zu einem Fall für den Jugendschutz? Ganz allgemein: Wenn Sprache verletzt, und zwar nicht nur die einzelne Person oder ein subjektives Geschmacksempfinden, sondern die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft. Sprachliche Äußerungen sind dann jugendschutzrelevant, wenn sie Menschen abwerten, Vorurteile stützen, Diskriminierung oder antisoziales Verhalten rechtfertigen, wenn sie zu Intoleranz, sozialer Ausgrenzung, Mobbing, Bullying oder gewalttätigem Verhalten aufrufen oder ein solches Verhalten als normal oder wünschenswert erscheinen lassen. Dies zeigt: Es geht grundsätzlich immer um den Kontext und um die Frage, wie die Sprachebene im Zusammenhang bewertet wird. Werden beispielsweise diskriminierende Rollenklischees insgesamt befürwortet oder am Ende gebrochen? Und wer bedient sich der drastischen Sprachbilder – die positive Identifikationsfigur oder der fiese Gegenspieler? Die Episode Für Geld mache ich alles! sorgte für viel Aufregung in der Presse, weil eine Teilnehmerin von der Gruppe gemobbt wird. Auch die FSF befasste sich mit der Folge und entschied eine Freigabe ab 12 Jahren. Sie bewertete die moralische Einordnung des Teilnehmers Tobias Wegener und seine Zuwendung an die gemobbte Claudia Obert als dominierend. Hier wird Mobbing, laut Prüfausschuss, eben nicht als positiv oder wünschenswert dargestellt. Am Ende bleibt vielmehr die Botschaft: "Das macht man nicht".

5. Stereotype von Geschlechtern oder Milieus

Als desorientierend können auch Darstellungen oder Aussagen wirken, die durch Schematisierung und Stereotypisierung Individuen oder ganze Schichten und Milieus abwerten oder Geschlechterrollen extrem limitieren. Diese Episode von Frauentausch wurde deshalb erst ab 16 Jahren freigegeben. Der Prüfausschuss sah ein Risiko einer sozialethischen Desorientierung für unter 16-Jährige und benannte die Stigmatisierung von sozialen Gruppen. Auf redaktioneller Seite fehle hier die nötige Relativierung. Der finanzielle Hintergrund der Familie von Joelle wird nicht erwähnt, während bei den drei Teilnehmenden Daniela, Didi und Elly ihr Hartz-IV-Bezug beinahe der Charakterisierung dient und vielfach wiederholt wird. Die drei werden von den anderen Teilnehmenden häufig als asozial und dreckig beschimpft und sind am Ende der Episode auch nicht die moralischen Gewinner des „Kampfes“. Das Klischee des faulen Hartz-IV-Empfängers wird hier klar bedient. Die Episode kann deshalb erst im Spätabendprogramm ausgestrahlt werden. Können solche Episoden Kinder wirklich desorientieren und den sozialen Frieden gefährden? Im Lehrmaterial finden Sie dazu entsprechendes Material.

6. Voyeurismus

Viele Kinder und Jugendliche sind mit Internetclips vertraut, die Menschen in komischen oder peinlichen Situationen zeigen. Der Jugendschutz achtet darauf, ob die Inhalte wegen ihres sensationsheischenden und voyeuristischen Charakters die Empathiefähigkeit beeinträchtigen bzw. Kinder und Jugendliche gegenüber dem Leid anderer desensibilisieren. Bei Ridiculousness handelt es sich um eine Zusammenstellung von Missgeschicken, Unfällen, Streichen und manchmal auch Gewalthandlungen. Dies wird auf besondere Art präsentiert, indem durch die belustigende, ironische Form der Kommentierung im Studio der Schaden der Gezeigten zu Unterhaltungszwecken benutzt wird. Das Format kann Schadenfreude und stellenweise eine Art Katastrophen-Voyeurismus vermitteln. Erschwerend kommt hinzu, dass Clips aus dem Internet gezeigt werden, über welche die Geschädigten in der Abfolge der diversen medialen Auswertungen keinen Einfluss mehr haben. Besonders drastische Details oder extreme Momente werden ab und zu auch wiederholt und mit Zeitlupen verdeutlicht. Eingestreute Toneffekte unterstreichen den humoristischen Slapstickcharakter, wodurch der Belustigungsaspekt noch hervorgehoben wird. Bei ab 16-Jährigen kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sie mit diesem Maß an Schadenfreude bereits umgehen und die Situationen selbständig kritisch einordnen können. Diese Rubrik „ko geschlagen“ wurde hingegen aufgrund der präsentierten Schadenfreude und der Schwere der Verletzungen erst ab 18 Jahren freigegeben. Wie schätzen Ihre Schüler diese Clips ein? Hier finden Sie Lehrmaterial mit einem weiteren Medienbeispiel zu dem Thema

7. Selbstverletzung / Drogenmissbrauch

Als sozialethisch desorientierend wird außerdem eine befürwortende Darstellung von physisch oder psychisch schädigendem Risikoverhalten eingeordnet. Deshalb achtet die FSF bei ihren Prüfungen von Sendungen, die Schönheits-Operationen oder erhebliche kosmetische Eingriffe thematisieren, auch immer darauf, ob ein Druck beim Zuschauenden erzeugt wird, durch Operationen optischen Schönheitsidealen nachzueifern. Schädigendes Risikoverhalten kann aber auch in Formaten eine Rolle spielen, in denen Selbstverletzung und Drogen- oder Alkoholkonsum einseitig positiv und als mit sozialem Statusgewinn verbunden dargestellt werden. Dieser Musikclip zeigt viele unterschiedliche Facetten auf, denn der Spaß an Drogenkonsum wird durchaus deutlich; gleichzeitig wird dies aber auch in einigen Sequenzen kritisch eingeordnet. Aber relativieren diese kritischen Szenen den Eindruck besonderen Spaßes und gehobener Freude durch Drogenkonsum? Oder kann man eine Verharmlosung und möglicherweise sogar eine Glorifizierung des Rausches durch bunte Bilder feststellen? Er wurde schließlich ab 12 Jahren freigegeben, da die negativen Auswirkungen von Drogen doch deutlich werden und außerdem der musikalische Kontext und die Künstlichkeit des Settings relativierend wirken.

8. Sexualität

8.1. Freigabe ab 12 Jahren

Als Zuschauerin oder Zuschauer kann man bei den Sendern oder der FSF Beschwerde einreichen, wenn eine Sendung im Fernsehen als entwicklungsbeeinträchtigend eingeschätzt wird. Viele Zuschauerbeschwerden behandeln die Frage, wie viele sexuelle Details einem Kind oder Jugendlichen zugetraut werden sollten. Dabei wird deutlich, dass manche Eltern unangenehme Fragen ihrer Kinder in Bezug auf Sexualität als nicht altersgemäß einstufen, der Jugendschutz jedoch mit Blick auf die Entwicklungsbeeinträchtigung weitere Grenzen setzt. Es ist nicht Aufgabe des Jugendschutzes, Kinder und Jugendliche vor einer Thematisierung von Sexualität zu bewahren. Doch können sexualthematische Medieninhalte nicht für jüngere Kinder unter 12 Jahren freigegeben werden, wenn sie grundlegende Werte wie Gleichberechtigung, Partnerschaftlichkeit, Selbstbestimmung oder die Bedeutung von Gefühlen in zwischenmenschlichen Beziehungen negieren oder die Bedeutung von Sexualität überhöhen. Dies ist in dem rund 20-sekündige Clip nicht der Fall. Sexualität wird hier nur indirekt, für jüngere Kinder kaum dekodierbar, dezent thematisiert und ist an keiner Stelle mit sozial abträglichen Botschaften verbunden. Es überwiegt vielmehr eine fröhliche Atmosphäre, das Paar geht sehr zugewandt und herzlich miteinander um. Eine konkrete Anwendung oder eine entsprechende Visualisierung des Produkts wird nicht inszeniert. Von einer abträglichen Wirkung auf jüngere Kinder wird deshalb nicht ausgegangen.

8. Sexualität

8.2. Freigabe ab 16 Jahren

Bei Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 15 Jahren ist darauf zu achten, dass ihnen ein Freiraum zugestanden wird, damit sie die physische und psychische Reife entwickeln können, um selbst zu bestimmen, ob und in welchen Zusammenhängen sie sexuelle Beziehungen eingehen. Gerade in dieser Altersphase sind die Entwicklungsunterschiede erheblich. Die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit setzt voraus, dass sie nicht durch Medieninhalte den Zwang verspüren, sexuelle Erfahrungen zu benötigen, um mit anderen Gleichaltrigen mithalten zu können. Für die Präsentation bestimmter Sexualpraktiken oder Beziehungskonzepte gilt: Solange Menschen selbstbestimmt und in gegenseitiger Übereinkunft handeln, kann bei der Bewertung größere Toleranz gewährt werden. Wird aber eine sexuelle Praktik oder ein Beziehungskonzept in einem Kontext dargestellt, in dem der Eindruck entsteht, jeder müsse dies(e) erleben und alle anderen Praktiken oder Beziehungskonzepte seien weniger wert, so könnte dies unter 16-Jährige überfordern, da ihnen mangels eigener Erfahrung in der Regel die Einschätzungsmöglichkeiten fehlen. Dies wurde bei der ersten Episode von Luftpost angenommen. Zwar werden die Sextoys nicht direkt in ihrem Gebrauch gezeigt, doch ist deren Präsentation bzw. Handhabung durch die Mitarbeiter durchgängig Thema. Die Überbetonung von Sexualität, die explizite Präsentation einiger Sextoys, welche sich auch stets auf ihre Handhabung bezieht und das Heranziehen von Zahlen (3.000 Bestellungen am Tag, etc.) suggerieren eine Normalität von sexuellen Praktiken, die nicht den Erfahrungen von 12-jährigen Zuschauern entsprechen und sie damit in der Entwicklung ihrer eigenen Sexualität beeinträchtigen könnte.

Zusammengestellt von

Brigitte Zeitlmann ist hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen und arbeitet in dem Bereich der Medienpädagogik bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Als Redakteurin verantwortete sie beim multimedialen Lehrangebot Faszination Medien den Bereich Jugendschutz und war jahrelang Mitglied der Auswahlkommission der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) Generation. Sie ist außerdem Prüferin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) sowie regelmäßig Mitglied der Nominierungskommission und Jury des Grimme-Preises.

[Bild: Sandra Hermannsen]