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Bewertung von True-Crime-Formaten durch Jugendliche

Videos und Werkstattbericht zum Partizipationsprojekt True.Crime.Story

JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen

Projektverantwortliche: Lena Schmidt, Stoyan Radoslavov, Achim Lauber

Das Projekt True.Crime.Story wurde von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen e. V. (FSF) beauftragt und vom Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) umgesetzt. Im Rahmen von Forschungswerkstätten und medienpädagogischen Praxisprojekten wurden die Perspektiven von Jugendlichen in Bezug auf das Gefährdungspotenzial von True-Crime-Sendungen erfasst und medienpädagogisch ausgewertet. Aus dem Projekt entstanden vier Videos, in denen die Jugendlichen zu gesetzten Schwerpunktthemen Auskunft geben. 

Die Erhebung der Aussagen Heranwachsender im Alter von 12 bis 15 Jahren erfolgte im Rahmen von vier Forschungswerkstätten. Insgesamt konnten 27 Jugendliche erreicht werden, davon neun Mädchen und 18 Jungen. Die Werkstätten wurden als medienpädagogische Praxisprojekte umgesetzt. Dafür wurden gezielt Reflexionsmomente angelegt, in denen die Teilnehmenden ihre Bewertung von True-Crime-Formaten differenzieren und artikulieren konnten. 

Die gesetzten Schwerpunktthemen – Format, Charaktere und Beziehungsstrukturen, Gewalt und Verängstigung sowie Kinder- und Jugendmedienschutz – orientieren sich an Kategorien, die auch im Rahmen der Prüfpraxis von True-Crime-Formaten relevant sind.

Zum Schwerpunktthema Format stand die Frage im Fokus, wie Jugendliche das Genre und im Speziellen audiovisuelle True-Crime-Sendungen wahrnehmen. Auch wenn das Genre nicht bei allen Beteiligten gleich beliebt war, ging für alle eine große Faszination davon aus. Umso mehr sich dem Gesprächsgegenstand angenähert wurde, umso deutlicher wurde, wie präsent die Themen, die in True-Crime-Formaten verhandelt werden, in ihrem Alltag sind und wie sie sich durch die Rezeption der Geschichten mit ihren eigenen Interessen und Ängsten auseinandersetzen. Auch ihre Beweggründe sich mit True-Crime-Inhalten zu beschäftigen, zeigen das anschaulich.

Neben den gängigen Audio-Streaming-Diensten für die beliebten Podcasts sind Portale wie Netflix und Amazon, aber auch YouTube zentral. Der Fernseher ist im familiären Rahmen bedeutsam, wird aber weniger genutzt und kaum aktiv eingeschaltet. In diesem Kontext zeigte sich auch, dass die Teilnehmenden, die Sendungen, die in der Prüfpraxis des FSF bzw. des Jugendschutzes relevant sind, kaum kennen. Aus einer Liste von 20 Sendungstitel wurden insgesamt nur drei Titel am Namen erkannt.

Die Dramaturgie sowie wichtige Merkmale von True-Crime-Sendungen wie Techniken zur Emotionalisierung und Dramatisierung und dem Wechselspiel aus non-fiktionalem und fiktionalem Erzählen sind den befragten Jugendlichen vertraut. Bei audiovisuellem Material begründen die Jugendlichen ihre Entscheidungen zwischen Fakt oder Fiktion aber eher oberflächlich. Es werden Beispiele genannt, die vermuten lassen, dass ihnen nicht vollständig bewusst ist, dass man einen realistischen Eindruck auch filmisch herstellen kann. Das (vermeintlich) echte Videomaterial in True-Crime-Sendungen wird am häufigsten benannt, wenn es darum geht, Sendungen nach ihrem Wahrheitsgehalt zu prüfen. Bei Aussagen, die sich nicht auf konkrete Sendungen beziehen, kann davon ausgegangen werden, dass die Jugendlichen insbesondere an die Podcasts denken, die sie gern hören. Diese sind anders aufgebaut und der Wahrheitsgehalt ist oftmals höher und besser belegt. Grundsätzlich wurde vor allem eines deutlich: Der gefühlte Realitätsbezug der Geschichte ist sowohl für das Spannungs- als auch das Ängstigungspotenzial enorm wichtig.

Bei True-Crime-Sendungen steht für die Jugendlichen der Täter bzw. die Täterin im Fokus ihres Interesses. Dabei fällt ihnen auf, dass oft Männer in der Rolle des Täters gezeigt werden und Frauen in der Rolle des Opfers. Sie finden das realistisch und naheliegend, weshalb sie auch versuchen, die Stereotype aus den Formaten logisch zu erklären. Damit reproduzieren sie geschlechterspezifische Stereotype, die in True-Crime-Sendungen verbreitet sind. Dass Männer eher in der Lage sind zu töten, finden beispielsweise mehrere Teilnehmende naheliegend, da Männer eher überlegen in Größe und Stärke seien. Frauen wiederum würden ihre Konflikte friedlicher lösen. Wenn Frauen hingegen zu einem Mord fähig wären, dann wäre dieser raffiniert und affektiv. Beim Erarbeiten von eigenen Rollenbeschreibungen eines Täters bzw. einer Täterin fiel auf, dass die Jugendlichen bewusst auch Täterinnen entwarfen. Dies begründeten sie mit ihrem Storytelling. Besonders häufig wiesen sie den Charakteren die Merkmale "isoliert" und "einsam" zu. Mordmotive begründeten sie in fast allen Fällen mit Emotionen wie Rache, Eifersucht oder Gier.

Die Thematisierung von Liebe und Hass war häufig Teil der Auseinandersetzung mit Beziehungsstrukturen innerhalb von True-Crime-Sendungen. Die Jugendlichen waren sich darin einig, dass Morde, die innerhalb von Liebes- oder Familienbeziehungen stattfinden, meistens schwerer zu verarbeiten sind. Gleichzeitig seien genau das die besonders spannenden Geschichten, weil sie Überraschungsmomente (Kindermord durch die Mutter, Tötung der Geliebten o.ä.) bereithielten. Die Auseinandersetzung mit Gewalttaten innerhalb der Familie ist für einige Studienteilnehmenden besonders belastend, weil es ihnen verdeutlicht, wie Gefühle sich umkehren und Menschen sich ändern können. Anderen Jugendlichen hilft es hingegen sich von dem Gesehenen zu distanzieren, weil sie sich in der eigenen Familie besonders sicher fühlen.

Die Jugendlichen hatten keine Schwierigkeiten über das Thema Angst im True-Crime-Kontext zu sprechen. Es wird sehr deutlich, dass ihnen insbesondere Szenarien zusetzen, mit denen sie sich identifizieren können. In diesem Kontext wird oft Gewalt an Kindern genannt, was zeigt, dass sie sich unter bestimmten Umständen noch als Kinder wahrnehmen, die geschützt werden müssen. Geschlechtsspezifische Taten, insbesondere Gewalt gegen Frauen, machen weibliche Teilnehmende zum Thema.

Thematisiert wird von den Jugendlichen im Kontext mit Angst vor allem psychische Gewalt. Sie ist subtil in der Darstellung und wirkt unberechenbar. Solche Gewaltakte, die nicht explizit dargestellt werden, gehen mit Spannungserleben einher und regen die Fantasie (sich Schlimmes vorzustellen) der Jugendlichen an. Sie sind allerdings auch sehr aufmerksame Rezipient*innen und prüfen das Gesehene auf dessen Glaubwürdigkeit: wenn eine Szene nicht plausibel ist, löst sie auch keine Angst aus.

Die Jugendliche kennen vor allem solche Maßnahmen des Kinder- und Jugendmedienschutzes, die ihnen selbst in ihrem Medienalltag als sichtbare Elemente begegnen. Das sind z.B. die Altersfreigaben mit den bekannten Symbolen oder die Ankündigungen ungeeigneter Inhalte, die Jugendliche aus dem Fernsehen aber auch von Streamern wie Amazon kennen. Auch technische Hilfsmittel des Kinder- und Jugendmedienschutzes wie Kinder-Accounts und Handysperren sind ihnen bei digitalen Geräten aufgefallen. Von Altersverifikationssystemen mittels Kreditkarten und Personalausweisen haben sie zwar gehört, sie wissen aber nicht, wie diese funktionieren.

Die Jugendlichen bewerten den Kinder- und Jugendmedienschutz insgesamt als notwendige und wichtige Einrichtung. Gerade in Bezug auf Kinder, die jünger als sie selbst sind, sind sie sehr sensibel. Viele haben jüngere Geschwister oder können sich noch sehr gut in die Zeit hineinversetzen, als sie selbst jünger waren. Häufig kam in diesem Rückgriff der Kommentar, dass sie früher vor allem Angst hatten, was jetzt aber nicht mehr der Fall sei.

Während im Blick der Jugendlichen auf jüngere Kinder der Schutzgedanke im Vordergrund steht, nehmen sie für sich selbst in Anspruch, selbstständiger entscheiden zu können, was gut für sie ist. Sie setzen sich mit Maßnahmen, die ihnen bekannt sind, auseinander und bewerten sie individuell, d. h. mit Bezug zum Medieninhalt und zur Selbsteinschätzung ihrer eigenen Resilienz. So finden sie häufig die Altersfreigaben von bestimmte Medieninhalten entweder zu streng oder zu locker.

Mit dem Entwicklungsschritt, selbstständiger für sich selbst und den eigenen Medienumgang entscheiden zu wollen, geht auch der Wunsch nach mehr Teilhabe, Sichtbarkeit und Transparenz im Jugendmedienschutz einher. In den Forschungswerkstätten wünschten sich Jugendliche Triggerwarnungen durch die man selbst einschätzen könne, ob man das, was in den Formaten gezeigt wird, schauen möchte. Solche Lösungen finden sie gut, weil sie die Eigenverantwortung Jugendlicher stärken.

Anmerkungen:

1. Im Rahmen der Studie wurde zwischen episodischen und soapartigen SR-Sendungen unterschieden. Episodische Sendungen kennzeichnen sich durch einen wechselnden Cast (Ausnahme sind feste Experten) und einen am Ende der Folge abgeschlossenen Handlungsstrang. Sie werden noch einmal in Ermittlergeschichten (z. B. Die Schulermittler) sowie Alltags- und Familiengeschichten (z. B. Familien im Brennpunkt) unterteilt. Soapartige Sendungen kennzeichnen sich durch fortlaufende Handlungsstränge und den soapartigen Charakter. Es gibt einen festen Cast und pro Folge werden mehrere Handlungsstränge verfolgt, deren Dauer für die Zuschauer nicht vorhersehbar ist (z. B. Berlin – Tag & Nacht).

2. Ergebnisse einer Regression mit dem Einschluss-Verfahren, abhängige Variable: Wahrnehmung des Inszenierungscharakters („Das Gezeigte passiert wirklich und die Fernsehmacher sind dabei und filmen mit.“).

Literatur:

1. Hildebrandt, A.: „Das nenne ich Sozialporno“. Interview mit A. Veiel. In: Stuttgarter Zeitung vom 26.10.2010., abrufbar unter: www.stuttgarter- zeitung.de/inhalt.scripted- reality-im-tv-das-nenne-ich- sozialporno.c70e0b7c- 1881-41fc-93ec-d6cef- cab64cc.html

2. Mares, M.-L.: The Role of Source Confusions in Television’s Cultivation of Social Reality Judgments. In: Human Communication Research, 2/1996/23, S. 278 – 297 doi:10.1111/j.1468 -2958.1996.tb00395.x

3. Panorama: Das Lügenfernsehen. 2011, abrufbar unter: http://daserste.ndr.de/ panorama/archiv/2011/ luegenfernsehen127.html

4. Paus-Hasebrink, I.: Forschung mit Kindern und Jugendlichen. In L. Mikos/ C. Wegener (Hrsg.): Quali- tative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz 2005, S. 222 – 231

5. Schenk, M./Gölz, H./ Niemann, J. (Hrsg.): Faszination Scripted Reality: Realitätsinszenierungen und deren Rezeption durch Heranwachsende. In: LfM- Dokumentation: Düsseldorf 2015/52

6. Stier, B.: Medien. In: Ders./N. Weissenrieder (Hrsg.): Jugendmedizin. Gesundheit und Gesellschaft. Heidel- berg 2006, S. 47 – 57

7. Tews, S./Sack, B.: Neue RTL-2-Serie: Dieses Asi-TV ist eine Schande für Köln. In: Bild.de vom 09.01.2013, abrufbar unter: www.bild.de/ regional/koeln/koeln-50667/ asi-tv-schande-fuer-koeln- 28013704.bild.html

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Das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis mit seinem Büro Berlin befasst sich mit Medien und medialen Phänomenen, mit Trends, Chancen und möglichen Schwierigkeiten aus Sicht von Kindern und Jugendlichen. Seine Forschungsergebnisse werden für verschiedene Bildungsfelder aufbereitet und dienen der Abteilung Praxis als Grundlage für innovative Projekte und Modelle für die Erziehungs-, Bildungs- und Kulturarbeit. Die Erfahrungen in der Praxisarbeit führen wiederum zu neuen Forschungsfragen und Evaluationen. Ziel der pädagogisch-praktischen Angebote des JFF ist ein umfassende und nachhaltige Förderung von Medienkompetenz.

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Sensibilisierung für Fake News und Verschwörungserzählungen
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Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen e.V. (FSF) ist eine Einrichtung des Jugendmedienschutzes. Neben der Programmprüfung und der Vergabe von Altersfreigaben für Fernsehsendungen sieht die FSF ihre Aufgabe in der Förderung eines bewussteren Umgangs mit Medien. In diesem Sinn führt sie medienpädagogische Projekte durch, gibt Publikationen heraus und schafft bei Veranstaltungen ein Diskussionsforum zu Entwicklungen im Medienbereich.

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