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Von Streams & Stories

Flüchtige Inhalte in sozialen Netzwerken

Dr. Christian Richter

Medienradar, 09/2021

In sozialen Medien und Messengern erfahren automatisch verschwindende Fotos und simultane Livestreams eine wachsende Bedeutung. Es sind Bilder, die nicht überdauern, sondern nur im Jetzt existieren. Sie versprechen Authentizität, Echtheit sowie einen unverfälschten Zugang zu Realität und heizen den Konsum medialer Inhalte an. Sie öffnen aber auch einen Raum für die ungeschützte Verbreitung jugendgefährdender oder krimineller Inhalte, der nur schwer zu kontrollieren ist.

Live im Internet

Am 9. Oktober 2019 versucht ein Rechtsextremist die Synagoge im Paulusviertel von Halle (Saale) zu stürmen. Auf seiner Flucht durch die Innenstadt schießt er mehrfach wild um sich und tötet dabei zwei unbeteiligte Personen. Die Schüsse erschüttern nicht nur Halle. Sie sind über das Internet (zumindest potenziell) weltweit zu hören. Der Täter hatte seinen schrecklichen Lauf der Barbarei mithilfe einer Helmkamera über die Onlineplattform Twitch live gestreamt und nutzte mit dieser simultanen Übertragung von Bildern über das Internet ein Verfahren, das sich seit einigen Jahren zunehmend durchsetzt.

Dass diese Livestreams für die Dokumentation eigener Straftaten und schändlicher Gewaltakte genutzt wird, ist die sehr seltene Ausnahme. Der mit Abstand größte Teil der Übertragungen wird für friedliche, manchmal triviale, häufig kommerzielle Zwecke genutzt. Diese Streams zeigen dann Jugendliche beim Computerspielen oder Influencer:innen, die Modefragen beantworten. In ihnen berichten Prominente von ihrer Verlobung, stellen Musikbands ihr neues Album vor oder präsentieren Unternehmen ihre Firmenevents. Sie können aber auch Eindrücke von politischen Protesten oder aus Kriegsgebieten beinhalten. So unterschiedlich ihre Formen und Inhalte auch sein mögen, sie alle formulieren ein explizites Authentizitätsversprechen und verheißen aufgrund der Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Ausstrahlung (von Produktion und Rezeption) einen scheinbaren Zugang zu wahrhaftigen Momenten sowie zu nicht-manipulierten Abbildern einer (vermeintlichen) Realität.

Flüchtige Momente für den Zerfall

Die wachsende Beliebtheit von Online-Liveübertragungen scheint zunächst im Widerspruch zum Internet und seinem allgegenwärtig formulierten Versprechen nach Zeitsouveränität zu stehen. Schließlich wird oft betont, dass man sich (etwa bei YouTube) anders als beim Fernsehprogramm gerade nicht nach vorgegebenen Zeiten richten muss. Mit der Entscheidung, Livestreams einzurichten, lösen sich die Plattformen also von ihrer Position als Gegenentwurf zum Fernsehbild und imitieren es stattdessen. Ein Ursprung dafür ist in den „verschwindenden Fotos“ zu suchen, mit denen das Unternehmen Snapchat ab Beginn der 2010er-Jahre auf sich aufmerksam machte. So erlaubt es die Programmierung der zugehörigen App, Bilder zu versenden, die bei den Empfangenden nur wenige Sekunden sichtbar bleiben, bevor sie automatisiert gelöscht werden.[1] Zudem führte Snapchat im Jahr 2013 erstmals die sogenannten „Stories“ ein, mit deren Hilfe eine Anzahl von Bildern oder kurzen Videos in eine automatisch-ablaufende Abfolge gebracht werden und hieraus die Erzählung einer kurzen Geschichte entstehen kann. Jede dieser Mini-Narrationen wird gewöhnlich nach 24 Stunden automatisch gelöscht.

Die Story-Funktion erwies sie als derart effektiv, dass sie von nahezu allen Mitbewerbern – teilweise unter anderen Namen – übernommen wurde. Mittlerweile können solche zeitlich-begrenzten und nur kurzzeitig abrufbaren Sequenzen beim Messenger WhatsApp im eigenen „Status“, bei Twitter über die Funktion „Moments“ oder bei Instagram unter dem Label „Insta-Story“ eingestellt werden. Auch YouTube und Facebook bieten vergleichbare Dienste an. Sie alle haben gemein, dass in ihnen Bilder geschaffen werden, die keine Beständigkeit haben. Sie werden nur geschaffen, um schnell wieder zu zerfallen. Eine solche Flüchtigkeit von punktuellen Informationen, die einen „Moment der Zeit“ besetzen, bloß um „dann an die Erinnerung verloren“ zu werden[2], ist eigentlich charakteristisch für rundfunkbasierte Umgebungen wie das Fernsehen. Was Lorenz Engell über das Fernsehen formuliert, beschreibt nun beeindruckend exakt die Stories der sozialen Netzwerke: „Seine Bilder behaupten keinen Bestand in der Zeit, sie sind nicht zeitresistent. Fernsehsendungen [oder Stories] laufen ab in der Gegenwart der jeweiligen Ausstrahlung; sie müssen jeweils jetzt betrachtet werden.“[3]

Genau in dieser Jetztigkeit liegt der Reiz der Bilder, denen wegen ihrer Schnelligkeit und ihres Charakters als spontane Momentaufnahmen eine authentische Aura anhaften kann. Zugleich verlangt ihre Flüchtigkeit einen schnellen und unverzüglichen Verbrauch, um die Inhalte nicht zu verpassen. Hieraus kann ein Druck erwachsen, regelmäßig zu überprüfen, inwieweit neue Beiträge für einen nur kurzzeitigen Abruf bereitstehen. Auf diese Weise kann also Konsum gesteigert und eine festere Bindung an die Plattform provoziert werden.

JETZT ist echt!

Inzwischen lassen nahezu alle Betreiber von sozialen Netzwerken (insbesondere YouTube, Instagram, Facebook und TikTok) – unter gewissen Voraussetzungen – die zusätzliche Möglichkeit einer simultanen Ausstrahlung zu. Mit YouNow[4] und Twitch existieren sogar zwei populäre Plattformen, die das Livestreaming in den Kern ihres Angebots stellen. Gemäß der JIM-Studie 2020 nutzen mittlerweile rund 14 Prozent der Jugendlichen allein die Dienste von Twitch mindestens mehrmals in der Woche.[5]

Die Flüchtigkeit von bewegten und unbewegten Bildern wird durch den Modus des Livestreamings im Vergleich zu den Stories noch einmal gesteigert, denn in diesen Momenten versetzen sich die Oberflächen endgültig in einen Gegenwartsmodus, der lange Zeit nur dem Fernsehen mit seinen Liveübertragungen vorbehalten war. Es ist ein Zustand, der stets einen unverfälschteren Zugang zur vermeintlichen Realität verheißt. „Gerade die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Vermittlung, vom Empfang und Rezeption“, wie Knut Hickethier über das Fernsehen schreibt, scheint schließlich „jede Beeinflussung der gezeigten Bilder zu verhindern“, weswegen „gerade der Live-Charakter der Bilder für eine gesteigerte Authentizität des Gezeigten“ spricht.[6] Es könne schlicht nicht „unter Zuhilfenahme der Schnitttechnik zensiert werden“[7], so die Annahme, die nun nicht mehr nur für die Livebilder des Fernsehens, sondern auch für solche auf Twitch & Co. zu gelten scheint.

Aufgrund seiner zeitlichen Verbindlichkeit ist während eines Livestreams zudem eine simultane Kommentierung etwa über Chats umsetzbar, wodurch im laufenden Programm in einen Austausch mit dem Publikum getreten und auf das Geschehen direkten Einfluss genommen werden kann. Bei konventionellen Videos ist dies nur zeitlich nachgeordnet möglich. Dies gewährt den Streamer:innen eine unmittelbare Rückkoppelung mit der Zielgruppe, aus der sich Ableitungen und Rückschlüsse für die Akzeptanz des eigenen Handelns und der eigenen Persönlichkeit ziehen lassen. Hier ist also ein noch effizienteres Identitätsmanagement denkbar. Das aus all diesen Punkten resultierende Gemenge aus vermeintlicher Nähe, Unmittelbarkeit, Authentizität und Echtheit katalysiert die Versprechungen der Social-Media-Plattformen, sodass sich der eingangs formulierte Widerspruch auflöst und vielmehr die Passgenauigkeit von derartigen flüchtigen Inhalten zu den digitalen Umgebungen offenbart.

Wettlauf mit der Zeit

Die Unwiderruflichkeit einer simultanen Ausstrahlung führt ebenso dazu, dass die übertragenen Bilder in der Welt sind und auch im Nachhinein nicht mehr zensiert werden können – zumindest nicht für diejenigen, die sie in diesem Augenblick angesehen oder selbst aufgezeichnet haben. So lassen sich Bilder sichern, deren Öffentlichwerdung andernfalls unterbunden worden wäre – im Guten wie im Schlechten. Dieser Grund muss auch als zentrale Motivation des Attentäters von Halle angenommen werden, seine Tat auf Twitch zu streamen. Sein Hass wurde damit medial konserviert. Nach dem Ende seines Streams wurde dieser (wie häufig üblich) auf der Plattform automatisiert archiviert und war dann als Aufzeichnung zeitsouverän abrufbar. Laut den Angaben der Plattform verfolgten insgesamt fünf Personen das 35‑minütige Livevideo aus Halle simultan.[8] Bis zur Entfernung der Aufzeichnung und der Sperrung des zugehörigen Kontos dauerte es jedoch noch fast sechs Stunden. Bis dahin wäre es von rund 2.200 weiteren Personen angesehen worden.[9] Zusätzliche Versionen sollen bereits wenige Minuten später zudem auf anderen Plattformen und Nachrichtendiensten zirkuliert sein. Dies ist erfolgt, obwohl die großen Unternehmen wie Facebook, Instagram, YouTube und Twitter ein gemeinsames Verfahren anwenden, das eine Verbreitung gelöschter Aufnahmen auf ihren Seiten verhindern soll. Dass dennoch Bilder der Tat in den Umlauf gelangten, liegt einerseits daran, dass sich die technischen Vorkehrungen mit simplen Bildbearbeitungsmethoden aushebeln lassen, und andererseits daran, dass sich an dieser Allianz längst nicht alle Unternehmen beteiligen – insbesondere nicht der Messenger Telegram, wo Teile des Livevideos zehntausendfach geteilt worden sein sollen.[10]

Die Plattformen stehen deswegen vor der schier unlösbaren Herausforderung, bereits während ihrer Übertragung erkennen zu können, ob Inhalte gefährlich und deren Verbreitung zu verhindern ist. Oft erfolgt dies daher erst durch die Beschwerde eines:einer Users:Userin – wenn die Bilder also bereits im digitalen Raum existent sind. Neben der technischen Schwierigkeit, kritische Inhalte in einer kaum beherrschbar großen Masse an Videos und Streams identifizieren zu können, stellt sich die noch weitreichendere Problematik, wo im Einzelfall die Grenze zu jugendgefährdenden oder kriminellen Handlungen gezogen werden muss. Welche Inhalte können auf Kinder und Jugendliche verstörend oder ängstigend wirken? Wo werden gewaltverherrlichende Aspekte transportiert? Wann wird die Menschenwürde verletzt? Nur selten sind diese Fragen so (bedauerlich) offenkundig zu beantworten wie im Fall von Halle. Dann aber sind weniger gesetzliche Bestimmungen maßgeblich, sondern vorrangig die privatrechtlichen und meist ausländischen Nutzungsrichtlinien der Plattformen.
 

1. Oft ist darauf hingewiesen worden, dass sich dieser Modus leicht umgehen lässt und die Bilder nicht wirklich dauerhaft gelöscht wurden.

2. Doane, Mary-Ann: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle, Oliver / Engell, Lorenz (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens. München: Fink Verlag (2006), S. 107.

3. Engell, Lorenz: Erinnern/Vergessen. Serien als operatives Gedächtnis des Fernsehens. In: Blanchet, Robert / Köhler, Kristina (Hrsg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuellen Quality-TV- und Online-Serien (Zürcher Filmstudien, Band 25). Marburg: Schüren (2011), S. 117.

4. Auf der Plattform YouNow streamen User:innen meist alltägliche Lebenssituationen oder diskutieren die Erfahrungen und Überlegungen ihres Tages mit der Community. Häufig erfolgt dies zu festen und verlässlichen Zeiten.

5. mpfs (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest): JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19‑Jähriger in Deutschland. Stuttgart (2020), S. 39.

6. Hickethier, Knut: Fernsehen. In: Christians, Heiko / Bickenbach, Matthias / Wegmann, Nikolaus (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Köln Weimar Wien: Böhlau Verlag (2015), S. 231f.

7. Mikos, Lothar: Kitzel des Unvorhergesehenen. Zum Live-Charakter des Fernsehens. In: Hickethier, Knut (Hrsg.): Fernsehen. Wahrnehmungswelt, Programminstitution und Marktkonkurrenz. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang GmbH (1992), S. 188.

8. Vgl. Twitch (@Twitch) auf Twitter, Tweet 1 vom 09.10.2019, 22:53 Uhr, https://twitter.com/Twitch/status/1182036266344271873 (abgerufen am 27.08.2021).

9. Vgl. Twitch (@Twitch) auf Twitter, Tweet 2 vom 09.10.2019, 22:53 Uhr, https://twitter.com/Twitch/status/1182036268202381313 (abgerufen am 27.08.2021).

10. Diese Annahme basiert auf Berechnungen von Megan Squire, Professorin für „Computer Science“ der Elon University. Vgl. Megan Squire (@MeganSquire0) auf Twitter, Tweet vom 09.10.2019, 19:12 Uhr, https://twitter.com/MeganSquire0/status/1181980782417633280 (abgerufen am 27.08.2021).

Autor

Christian Richter (Dr. phil.), geb. 1981, ist Medienwissenschaftler und Referent für Medienbildung. Ihn bewegt die Frage, wie sich die Themen Medienwissenschaft und Bildung zusammenbringen und in eine medienwissenschaftlich-fundierte Medienbildung überführen lassen. Dabei beschäftigt er sich mit aktuellen Entwicklungen und Formen der Kommunikation im digitalen Raum, aus denen er Anregungen für zeitgemäße Lernsettings ableitet. Seine weiteren Arbeitsschwerpunkte sind die Theorie und Programmgeschichte des Fernsehens, Mechanismen, Strategien und Ästhetik von On-Demand-Angeboten, Populäre Serialität und die Medialität von Achterbahnen.

[Bild: privat]
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