Interview

Influencer sind keine Freunde

Warum Videoportale so eine enorme Faszination auf Teenager ausüben und worauf Eltern achten sollten
Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Alicia Joe

Alicia Joe, Tilmann P. Gangloff

In: mediendiskurs online vom 21.10.2022

In der bunten Welt von YouTube, TikTok, Instagram & Co. ist Alicia Joester so etwas wie die Stimme der Vernunft. Bereits während des Studiums hat die Kommunikationsdesignerin (Jahrgang 1996) Make-up-Tutorials veröffentlicht. Mittlerweile hat sie unter dem Namen Alicia Joe über 500.000 Follower auf YouTube. Sie versteht sich vor allem als Journalistin, die sich in ihren Videos kritisch mit Netzphänomenen und den Praktiken von Influencern auseinandersetzt. Um diese Themen geht es auch in ihrem Buch Falsche Vorbilder.

Frau Joe, nach der Lektüre Ihres Buchs drängt sich der Eindruck auf: In digitalen Videoportalen ist alles gefälscht. Fotos sind bearbeitet, die schönen Körper sind das Ergebnis von Operationen, und jeder will irgendetwas verkaufen. Ist die Welt der sogenannten Influencer auf YouTube, TikTok, Instagram & Co. eine perfekte Illusion?

Es wird in der Tat ganz viel geschummelt, aber ich würde nicht so pauschal urteilen; es gibt auch Influencer, die sehr verantwortungsbewusst mit ihrer Reichweite umgehen.

Ist den Nutzerinnen und Nutzern klar, dass es den meisten Influencern einzig und allein um Aufmerksamkeit geht, weil erst bei hohen Klickzahlen die Kasse klingelt?

Zumindest die Erwachsenen sollten das wissen. Bei Kindern ist das sicher etwas anderes. Nicht alle werden zum Beispiel bestimmte Produktempfehlungen als Reklame erkennen, zumal der Hinweis „Werbung“ klein und verschämt in der Ecke steht. Aber auch bei den volljährigen Nutzern wirken die Mechanismen: Das Wissen um den Reklamefaktor macht ja nicht automatisch immun gegen den Werbeeffekt, zumal die Influencer sehr geschickt das Gefühl vermitteln, hier gehe es um eine Empfehlung unter Freunden.

Es ist nicht alles Werbung

Sollten dann nicht alle Videos dieser Art als Werbung gekennzeichnet sein?

Da ist sich selbst der Gesetzgeber nicht ganz sicher. Ich betrachte es schon als großen Fortschritt, dass Werbung im Netz überhaupt gekennzeichnet wird, das war lange Zeit nicht so. Wer ein Produkt empfiehlt, ohne dafür vom Hersteller bezahlt zu werden, kann auf die Kennzeichnung verzichten. Ich finde diese Differenzierung wichtig, weil man auf diese Weise die authentischen Empfehlungen erkennen kann.

Bei vielen Videoportalen muss man 13 Jahre alt sein, um sich anmelden zu können. Wie kann es sein, dass sich dort Influencer tummeln, die erst elf sind?

Das ist in der Tat total absurd, vor allem, wenn man bedenkt, wie streng im „richtigen Leben“ die Richtlinien für Kinder zum Beispiel bei Dreharbeiten sind: Sie dürfen nur wenige Stunden am Tag am Drehort sein, und das auch nur mit Gesundheitszeugnis und Einverständnis der Schule. Es gibt einige regelrechte „Kinderstars“ bei TikTok, die diese Grauzone nutzen.

Und die Plattformen schreiten nicht ein …

… weil sie auch mit diesen Influencern viel Geld verdienen. Ohne Druck von außen werden die Betreiber definitiv nicht aktiv.

In Frankreich und Großbritannien müssen Fotos, die technisch bearbeitet worden sind, gekennzeichnet werden. Ausgerechnet im regulierungsfreudigen Deutschland ist das nicht der Fall, und das ist nicht das einzige Manko. Hat die Medienaufsicht bei Videoplattformen versagt?

Zumindest ist sie nicht auf der Höhe der Zeit. Die Regulierung ist viel zu langsam für die rasante Entwicklung, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Dabei wäre es überfällig, Facebook, Instagram etc. in allen möglichen Gesetzen zu berücksichtigen. Werbung für Schönheitsoperationen zum Beispiel darf sich grundsätzlich nicht an Kinder und Jugendliche richten, trotzdem passiert das massenhaft: Influencer dokumentieren ihre OPs, weil sie dann nicht dafür bezahlen müssen; und ihre Empfehlungen richten sich natürlich auch an Minderjährige.

Die Politik sollte die Trends kennen

Ist der Gesetzgeber nicht grundsätzlich überfordert, weil sich die Masse der Videos gar nicht kontrollieren lässt?

Es wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung, wenn Politik und Schule die wichtigsten Trends kennen würden. Viele Lehrkräfte delegieren den kompletten digitalen Bereich gern an die jüngere Generation, aber auch sie sollten wissen, wofür sich ihre Schülerinnen und Schüler am meisten interessieren.

Warum sind die Videoportale gerade bei Kindern und Jugendlichen so außerordentlich beliebt?

Eltern erinnern sich bestimmt noch gut daran, wie fasziniert sie in ihrer Kindheit vom Fernsehen waren. Dieses Phänomen ist bei Social Media deutlich stärker ausgeprägt. Gerade bei TikTok gibt es dauernd neue Videos, ein Wisch mit dem Finger genügt, um den nächsten Reiz auszulösen; dafür sind insbesondere Kinder überaus anfällig.

Die heutige Elterngeneration hat einst sogenannte parasoziale Beziehungen zu den Hauptfiguren der RTL-Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten geführt. Gibt es das bei TikTok & Co. auch?

Na klar. Zu einer Person, die man ständig sieht, baut man automatisch eine Art Beziehung auf. Früher waren das Popstars und Serienfiguren, heute sind es Influencer, allerdings in ungleich größerem Ausmaß, weil man sie den ganzen Tag begleiten kann. Viele Influencer lassen ihre Fan-Gemeinde komplett an ihrem Leben teilhaben. Gefühle, Stimmungen, Krankheiten: Alles wird kundgetan. Kein Wunder, dass die Follower so etwas wie Freundschaft für diese Personen empfinden. Gerade während der Corona-Lockdowns hat das vielen in ihrer Einsamkeit geholfen. Aber natürlich kann diese Hingabe auch extrem ausgenutzt werden, wenn ein Influencer in erster Linie von wirtschaftlichen Motiven geleitet wird.

Kein Smartphone ist auch keine Lösung

Sie beschreiben die Folgen von derart einseitigen „Freundschaften“ in Ihrem Buch sehr drastisch. Das Spektrum möglicher Konsequenzen reicht von Magersucht über Depressionen bis zur Abhängigkeit von Alkohol und Tabletten, von Nebenwirkungen wie Cybermobbing ganz zu schweigen. Was können Eltern tun, um das zu verhindern?

Die Lösung kann jedenfalls nicht lauten, den Kindern die Internetnutzung zu verbieten, dafür ist ihr Alltag in der Schule oder im Sportverein schon viel zu sehr in WhatsApp-Gruppen organisiert. Außerdem werden Teenager ohne Smartphone sofort zu Außenseitern, und sie würden sowieso heimlich Mittel und Auswege finden. Umso wichtiger ist es, offen mit den Kindern zu kommunizieren und sich als Eltern auch selbst ein Bild davon zu machen, welche Plattformen die Kinder nutzen und wer dort wichtig für sie ist. Der Fokus des Buches liegt natürlich auf den negativen Aspekten, weil die in der Öffentlichkeit viel zu selten zur Sprache kommen, aber wenn Kinder einen kompetenten Umgang mit dem Internet lernen, kann es eine unglaubliche Bereicherung sein.

Eltern hängen oft selbst den ganzen Tag an ihrem Smartphone, viele sind kein gutes Vorbild. Bleibt dann als letzte Instanz die Schule, um 14‑jährigen Mädchen zu erklären, warum sie zum Beispiel keine Bikini-Selfies veröffentlichen sollten?

Es gibt bereits viele Lehrer, die Social Media in ihren Unterricht mit einbeziehen. Am besten wäre natürlich ein Schulfach Medienkunde, aber die nötige Kompetenz lässt sich auch fächerübergreifend vermitteln. Es geht ja nicht nur um Fotos, auch der Umgang mit sensiblen Daten wie Name, Wohnort oder Geburtsdatum ist oft sehr unbedarft.

Sinnfluencer vs. Influencer

Positives Pendant zum Influencer sind die „Sinnfluencer“. Woran kann man die einen von den anderen unterscheiden?

Wenn man ständig Hochglanz- und Bikinibilder aus dem Luxusurlaub oder das nächste neue teure Auto sieht, kann man davon ausgehen, dass diese Person nicht viele Gedanken an ein nachhaltiges Leben verschwendet. Wer sich unentwegt solchen Botschaften aussetzt, wird über kurz oder lang fast zwangsläufig unglücklich, weil das eigene Leben natürlich nicht mithalten kann. Wenn jemand dauernd für neue Produkte wirbt, aber nie Themen anspricht, die wirklich relevant sind, dann geht es ihm in erster Linie darum, Geld zu verdienen. Aus Sicht der Nutzer ist die Frage, wem man folgt, immer auch eine Konsumentscheidung; die Währung ist in diesem Fall nicht Geld, sondern Aufmerksamkeit. Bevor man im Supermarkt zur Kasse geht, sollte man in den Einkaufswagen schauen und sich fragen, ob man das wirklich alles braucht; bei TikTok & Co. funktioniert das auch.

Wovon lebt ein „Sinnfluencer“?

Auf YouTube kann man schon allein dadurch Geld verdienen, dass man Videos hochlädt, weil YouTube vor jedes Video automatisch Werbespots setzt. Außerdem halte ich es für völlig legitim, Kooperationen mit nachhaltigen Marken einzugehen, deren Produkte man guten Gewissens empfehlen kann.

Gibt es irgendeine Form von Mitsprachemöglichkeit bei den Werbespots? Es ist doch kontraproduktiv, wenn die Werbung den Intentionen des Influencers komplett widerspricht. 

Nein, diese Möglichkeit gibt es nicht, aber da ein Algorithmus die Spots auswählt, gehe ich davon aus, dass ein vorgeschalteter Spot zu einem Video über vegane Ernährung ebenfalls für vegane Produkte wirbt.

Ihre Follower kennen Sie unter dem Künstlernamen Alicia Joe, Ihr Erscheinungsbild in den Videos unterscheidet sich nicht wesentlich von dem vieler weiblicher Influencer. Ist das eine Rolle, in die Sie schlüpfen?

Ja und nein. Die Themengebiete, mit denen ich mich als Alicia Joe befasse, interessieren mich auch privat, aber das Make-up zum Beispiel ist auch eine Art Schutzmechanismus und sorgt dafür, dass ich in der Öffentlichkeit nicht sofort erkannt werde. Ich gebe in meinen Videos nur sehr wenig über mich persönlich preis, und natürlich spiele ich auch mit dem Kontrast zwischen Alicia Joe und meinem echten Ich.

Influencer müssen mit Hasskommentaren leben. Sinnfluencer wie Sie auch?

Ich bekomme überwiegend positive Rückmeldungen, aber wenn man im Netz eine gewisse Bekanntheit erreicht hat, bleibt es nicht aus, dass irgendwelche Leute ihren Lebensfrust an einem auslassen.

Gespräch mit

Alicia Joester studierte Kommunikationsdesign. Als Alicia Joe setzt sie sich auf ihrem YouTube-Kanal kritisch mit Netzphänomen und den Praktiken von Influencer:innen auseinander.

(Foto: © Alicia Joe)

Gespräch geführt von

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

(Foto: privat)