Zahlen / Fakten

„Manchmal hoffe ich, dass es nicht wirklich ist“

Einblick in die Studie „Faszination Scripted Reality“

Hanna Gölz, Dr. Olaf Selg, Julia Niemann, Prof. Dr. Michael Schenk

in: tv diskurs: 20. Jg., 1/2016 (Ausgabe 75)

Scripted-Reality-Sendungen sind bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt. In dem Maß wie das Fernsehen die Entwicklung und Sozialisation junger Rezipienten beeinflusst, werden bei häufigem Konsum von Scripted Reality (SR) negative Medienwirkungen befürchtet. Studien zeigen, dass die Fähigkeit, den Inszenierungscharakter eines Medieninhalts zu erkennen, Einfluss auf seine Wirkung hat. Somit stellen sich zwei Fragen: Wie sind SR- Sendungen gestaltet und inwieweit erkennen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene den Inszenierungscharakter? Diese Fragen waren Gegenstand der Studie Faszination Scripted Reality: Realitätsinszenierungen und deren Rezeption durch Heranwachsende, deren Ergebnisse hier präsentiert werden. Außerdem zeigen medienpädagogische Handlungsempfehlungen, wie jungen Rezipienten das Erkennen der Fiktionalität der Sendungen vermittelt werden kann.

Scripted-Reality-Sendungen sind fester Bestandteil des Nachmittagsprogramms deutschsprachiger Privatsender.  Aufgrund der thematisierten Inhalte und Konflikte werden diese bisweilen auch als „Sozialporno“ (Hildebrandt 2010) oder „Asi-TV“ (Tews/Sack 2013) bezeichnet. Neben problematischen Inhalten ist die angestrebte Authentizität ein wesentlicher Kritikpunkt. Durch gestalterische Stilmittel wird das Erkennen der Inszenierung des „Lügenfernsehens“ (Panorama 2011) erschwert. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktionlösensichauf. Um SR, ein Subgenre des Reality-TV, ausführlich zu beleuchten, wurde im Jahr 2013 eine umfangreiche Untersuchung mit mehreren Teilstudien durchgeführt (vgl. Tab. 1; Langfassung der Studie: Schenk/Gölz/Niemann 2015).

Verschleierung des Inszenierungscharakters und Ansprache von Tabuthemen und Alltagsproblemen

Über alle untersuchten SR-Formate hinweg lassen sich trotz sendungsspezifischer Unterschiede viele Gemeinsamkeiten in der filmischen und inhaltlichen Gestaltung erkennen. Die filmische Gestaltung fällt durch einen Stil auf, der eine hohe Ähnlichkeit zu Dokumentationen aufweist. Die Macher von SR setzen oftmals auf amateurhaft anmutende Bilder und Tonübertragungen, die den Eindruck verstärken, dass die Kamera live beim Geschehen dabei ist. Dies lässt sich beispielhaft am Einsatz von Handkameras festmachen: Handkameras werden in nahezu allen untersuchten Folgen (n = 60) eingesetzt. Diese Technik fällt in mehr als 20 % auch sehr stark (negativ) auf, worunter die Qualität leidet, z. B. dann, wenn Akteure in eine Verfolgung verstrickt sind und die Kamera nur unter Anstrengungen dem Geschehen folgen kann. Darüber hinaus wird während der Dreharbeiten meist – in manchen Formaten sogar ausschließlich – auf natürliches Licht zurückgegriffen. Lediglich die Sendung Schicksale – und plötzlich ist alles anders weist eine durchgängig hohe Tonqualität auf.

In SR-Formaten werden in erster Linie Themen aus dem Bereich „Partnerschaft, Ehe und Liebe“ konfliktreich dargestellt. Diese Inhalte machen knapp 30 % aller Themen aus (n = 306), gefolgt von Straf-tat/Gewalt/Unfall sowie Eltern-Kind-Beziehungen (jeweils ca. 14 %). Die episodischen1 Ermittlergeschichten legen ihren Schwerpunkt auf Kriminalität; Alltags- und Familiengeschichten hingegen fokussieren auf Konflikte innerhalb des Familien- und Freundeskreises. Gerade diese Auswahl alltagsnaher Themen ist für junge Rezipienten möglicherweise ein wichtiger Grund, sich SR-Sendungen zuzuwenden. Die Sendungen geben ihnen die Möglichkeit, Konflikte zu verfolgen, welche ansonsten nie oder nur selten in der Öffentlichkeit thematisiert werden, mit denen sie sich im Rahmen ihrer Entwicklung aber verstärkt beschäftigen. Unter dieser Prämisse ist die von den SR-Produzenten betriebene „Verschleierung“ des eigentlich fiktionalen Charakters als problematisch zu bewerten.

Dokumentation oder Fiktion?

Die im Rahmen der qualitativen Vorstudie befragten Rezipienten machen bei der Einordnung des Inszenierungscharakters Abstufungen – auch in Abhängigkeit von den einzelnen Formaten. Die Ergebnisse der quantitativen Teilstudie zeigen, dass 23 % der Seher episodischer Sendungen bzw. 16 % der Seher soapartiger Sendungen den Inszenierungscharakter nicht durchschauen (vgl. Abb. 1 und Abb. 2). Darüber hinaus kann ein nicht geringer Teil der Befragten den Inszenierungsgrad nicht eindeutig zuordnen (Antwortoption „teils/teils“). Das gilt für beide SR-Typen.

Die Einordnung des Inszenierungscharakters variiert mit Alter, Bildung und der im Anschluss an die Rezeption stattfindenden Kommunikation2. Je älter und je höher gebildet die Befragten sind, desto besser durchschauen sie die Fiktionalität episodischer SR. Auch bei den soapartigen Sendungen gehen die Befragten mit steigendem Alter eher von einer fiktionalen Darstellung aus. Ein Austausch über das Gesehene führt ebenfalls dazu, dass soapartige Sendungen eher als fiktional eingestuft werden. Allerdings redet nur ein Bruchteil der Befragten mit Eltern und Lehrern über die Inhalte, der Austausch findet vor allem mit Peers statt.

Woran machen junge Rezipienten den Inszenierungscharakter aus?

Woran junge Rezipienten den Inszenierungscharakter erkennen, ist sendungs- und personenabhängig. Im Allgemeinen verweisen sie weniger auf die Einblendhinweise am Anfang und am Ende der Folgen. Von den befragten 6- bis 11-Jährigen wird selbst ein audiovisueller Hinweis am Ende nicht zur Kenntnis genommen. Stattdessen verweisen die jungen Rezipienten auf (mangelnde) schauspielerische Qualitäten, unnatürliches Verhalten der Akteure und übertriebene Handlungsstränge. Zudem stellen sie aufgrund bereits erworbener Medienkompetenz sachlogische Überlegungen an. Dabei tauchen vor allem drei Argumentationslinien auf: 1) Das Filmteam ist z. B. nicht immer dort, wo gerade ein Konflikt verhandelt wird. 2) Filme sind generell „nicht echt“. 3) Die Häufung von Zufällen im Rahmen der Geschichten wirkt unglaubwürdig. Vereinzelt greifen dabei sogar schon 6- bis 9-Jährige auf ihre Alltagserfahrungen zurück. Der Kameraeinbezug in die Handlung, Zensuren durch Verpixelung oder Wegpiepsen, die verwackelten Kamerabilder und die alltagsnahen Themen sind hingegen Indizien, die dazu führen können, dass die Inhalte fälschlich als nonfiktional eingeordnet werden.

Medienpädagogische Handlungsempfehlungen

Die Art der Inszenierung und lebensweltnahe Themen geben den SR-Sendungen also einen wirklichkeitsnahen Charakter, der ihre fiktionale Machart beim Rezeptionsprozess auch dann noch überlagern kann, wenn dieser den jungen Nutzern bekannt ist. Einerseits erhalten transportierte Informationen und auftretende Personen damit eine Aufwertung als mögliche Orientierungshilfe oder Vorbilder, was unter Umständen als problematisch zu werten ist (insbesondere bei „Experten“, z. B. Polizisten, Anwälte). Andererseits liegt darin aber auch eine gute Basis für eine medienpädagogische Beschäftigung mit Inhalten und Figuren der Sendungen, da sich hier fruchtbare Kontroversen ergeben können (z. B. gute versus schlechte mediale Vorbilder).

In diesem Zusammenhang ist die Erstellung von medienpädagogischen Materialien zu begrüßen, die in der schulischen oder außerschulischen Medienbildung verwendet werden können. Diese sollten allerdings über die Befassung mit SR-Sendungen hinaus die umfassendere Thematik „Medien und Realität“ beinhalten, um – mit Blick auf das sich im permanenten Wandel befindende Fernsehangebot – grundlegende Kompetenzen zu vermitteln.

Um die jungen Nutzerinnen und Nutzer auch dort anzusprechen, wo sie inzwischen die meiste mediale Freizeit verbringen, und weil verpasste Sendungsfolgen in den Mediatheken nachgesichtet werden können, sollten auch Internetangebote in die Information über die Sendungen einbezogen werden. Hier wären sowohl spielerisch-interaktive Formen als auch ein informativer Blick hinter die Kulissen („Making-of“-Beiträge) denkbar, um das kritische Bewusstsein für SR und deren Machart zu fördern.

Wesentlich wäre es natürlich, schon die Rezeption von SR kritisch zu begleiten. Ein Austausch über die Sendungen findet in der Regel jedoch – wenn überhaupt – nur mit den kaum kompetenteren Peers statt. Eltern/Erziehungsberechtigte geraten dagegen zu Hause schnell in die Rolle von „Spielverderbern“, wenn sie die SR-Formate skeptisch kommentieren. Aber wären sie überhaupt willens und in der Lage zu einer tiefer gehenden Auseinandersetzung? Es wäre notwendig, dies in die Befragung von Kindern und Jugendlichen einzubeziehen, um die richtigen Mittel und Wege für eine differenzierte Medienerziehung zu finden.

Wo den Sendungen seitens der Befragten eine hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen wird – insbesondere bei den auftretenden „Experten“ –, ist auch die Sendungsproduktion in der Pflicht. Eine Handlungsempfehlung lautet demnach, dass die Auftritte dieser Figuren bzw. Personen mit besonderer Sorgfalt gestaltet werden sollten, da es in Einzelfällen zu problematischen Lerneffekten bzw. zur Übernahme falscher „Problemlösungsstrategien“ kommen kann.

Die schon gängige Praxis der Kennzeichnung von SR-Sendungen durch Einblendhinweise ist ebenfalls zu diskutieren. Wie die Studie gezeigt hat, gibt es keine Garantie für die unterstützende Wirkung der Einblendhinweise in ihrer derzeitigen Form, zumal das „Zapping“- Verhalten ihrer Wahrnehmung entgegensteht. Alternativen wären erstens eine – allerdings als übertrieben zu wertende – dauerhafte Kennzeichnung während der Sendungen oder zweitens eine wiederholte Kennzeichnung zu Beginn und am Ende der Sendungen sowie auch nach Werbepausen und im Zusammenhang mit anderen Einblendungen (z. B. bei Kontextinformationen und Bauchbinden). Zudem müsste abschließend geklärt werden, welche optische/ sprachliche Form die Kennzeichnungen haben müssen, um von den jungen Zuschauern gut verstanden zu werden.

Insgesamt erscheinen die auf der Grundlage der Studie genannten Maßnahmen nicht nur machbar, sondern auch notwendig, da die Unterscheidung von Realität und Fiktion bzw. Authentizität und Inszenierung als Kernkompetenz zu werten ist. Und dies nicht nur bezüglich Fernsehsendungen, sondern auch mit Blick auf die Zunahme von Bewegtbildern ungeklärter Herkunft im Internet (manipulative „Fake“-Videos).
 

Anmerkungen:

1. Im Rahmen der Studie wurde zwischen episodischen und soapartigen SR-Sendungen unterschieden. Episodische Sendungen kennzeichnen sich durch einen wechselnden Cast (Ausnahme sind feste Experten) und einen am Ende der Folge abgeschlossenen Handlungsstrang. Sie werden noch einmal in Ermittlergeschichten (z. B. Die Schulermittler) sowie Alltags- und Familiengeschichten (z. B. Familien im Brennpunkt) unterteilt. Soapartige Sendungen kennzeichnen sich durch fortlaufende Handlungsstränge und den soapartigen Charakter. Es gibt einen festen Cast und pro Folge werden mehrere Handlungsstränge verfolgt, deren Dauer für die Zuschauer nicht vorhersehbar ist (z. B. Berlin – Tag & Nacht).

2. Ergebnisse einer Regression mit dem Einschluss-Verfahren, abhängige Variable: Wahrnehmung des Inszenierungscharakters („Das Gezeigte passiert wirklich und die Fernsehmacher sind dabei und filmen mit.“).

Literatur:

1. Hildebrandt, A.: „Das nenne ich Sozialporno“. Interview mit A. Veiel. In: Stuttgarter Zeitung vom 26.10.2010., abrufbar unter: www.stuttgarter- zeitung.de/inhalt.scripted- reality-im-tv-das-nenne-ich- sozialporno.c70e0b7c- 1881-41fc-93ec-d6cef- cab64cc.html

2. Mares, M.-L.: The Role of Source Confusions in Television’s Cultivation of Social Reality Judgments. In: Human Communication Research, 2/1996/23, S. 278 – 297 doi:10.1111/j.1468 -2958.1996.tb00395.x

3. Panorama: Das Lügenfernsehen. 2011, abrufbar unter: http://daserste.ndr.de/ panorama/archiv/2011/ luegenfernsehen127.html

4. Paus-Hasebrink, I.: Forschung mit Kindern und Jugendlichen. In L. Mikos/ C. Wegener (Hrsg.): Quali- tative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz 2005, S. 222 – 231

5. Schenk, M./Gölz, H./ Niemann, J. (Hrsg.): Faszination Scripted Reality: Realitätsinszenierungen und deren Rezeption durch Heranwachsende. In: LfM- Dokumentation: Düsseldorf 2015/52

6. Stier, B.: Medien. In: Ders./N. Weissenrieder (Hrsg.): Jugendmedizin. Gesundheit und Gesellschaft. Heidel- berg 2006, S. 47 – 57

7. Tews, S./Sack, B.: Neue RTL-2-Serie: Dieses Asi-TV ist eine Schande für Köln. In: Bild.de vom 09.01.2013, abrufbar unter: www.bild.de/ regional/koeln/koeln-50667/ asi-tv-schande-fuer-koeln- 28013704.bild.html

Autorin

Hanna Gölz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Hohenheim.

[Bild: DHBW Mannheim]
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Dr. Olaf Selg ist freier Publizist und engagiert sich u. a. in der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM) im Bereich „Medienbildung“.

[Bild: privat]
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Julia Niemann arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

[Bild: Herbert von Halem Verlag]
Autor

Prof. Dr. Michael Schenk ist Leiter der Forschungs- stelle für Medienwirtschaft und Kommunikationsforschung an der Universität Hohenheim.

[Bild: Magazin Fachjournalist]