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Jenseits der Kindeskinder

Nachhaltigkeit im Anthropozän

Prof. Dr. Eva Horn

gekürzte Fassung, Medienradar, 09/2022

Seit dem 29. August 2016 leben wir offiziell im Anthropozän. Oder besser: werden wir gelebt haben. An diesem Tag präsentierte die Anthropocene Working Group – eine hochkarätig besetzte interdisziplinäre Untergruppe der International Commission on Stratigraphy – in Kapstadt ihren Vorschlag, die geologische Epoche der Gegenwart von „Holozän“ in „Anthropozän“ umzubenennen. Angefangen, so die Wissenschaftler, habe das neue Erdzeitalter in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts, mit der „Great Acceleration“, dem Plutonium-Fallout der Atomtests, dem scharfen Anstieg von fossilem Brennstoffverbrauch, dem dadurch verursachten CO2-Ausstoß und mit vielen anderen Stoffen (Plastik, Aluminium), die eine distinkte und dauerhafte geologische Markierung in der Oberfläche der Erde bilden werden.

Das Datum markiert eine Zäsur, nämlich die offizielle Anerkennung einer Einsicht, die im Grunde schon seit Jahren unser Bewusstsein von der Gegenwart prägt: dass der Mensch tiefgreifend und im globalen Maßstab das Lebenssystem des Planeten verändert.[1]

Dieser Text verdankt sich einem Forschungsaufenthalt als Fellow am Potsdam Institute for Sustainability Studies und der Einladung Werner Lamperts zu einer „Gesprächsrunde Nachhaltigkeit“. Ich danke den Gesprächspartnern in Potsdam und Langenlois, insbesondere Franz Mauelshagen, Stefan Schäfer, Oliver Putz, Andreas Weber, Harald Welzer und Claus Leggewie für zahlreiche Anregungen. Die Erstveröffentlichung erschien im Merkur, Heft 814, März 2017, https://volltext.merkur-zeitschrift.de/journal/mr/71/814.


Das heißt: Die Menschheit hat die klimatischen und ökologischen Grenzparameter des Holozäns überschritten, jener Epoche also, in der alles entstanden ist, was wir heute als menschliche Zivilisation betrachten: Sesshaftigkeit, Ackerbau, staatliche Strukturen, Städte, Schrift. Der trockene geologische Fachbegriff bezeichnet de facto eine nie dagewesene ökologische Metakrise, die sich aus einer Vielfalt von einzelnen Faktoren und Symptomen zusammensetzt. Neben der globalen Erwärmung und der Veränderung der ozeanischen und atmosphärischen Strömungssysteme sind das die Störung der Wasserzyklen, die Versauerung der Meere, der Verbrauch zahlreicher nicht ersetzbarer Ressourcen, der Verlust der Biodiversität, die Versiegelung von Böden, die Akkumulation von nicht abbaubarem Abfall und vieles mehr.

Wo früher von „Umweltverschmutzung“, „Grenzen des Wachstums“, „peak oil“ etc. gesprochen wurde – also von kurz- bis mittelfristigen Zukünften –, wird nun in geologischen Skalen von Jahrtausenden, wenn nicht gar Zehntausenden von Jahren gerechnet. Die Rede von der erdgeschichtlichen Zäsur verleiht dem Begriff ein besonderes Pathos, zumal ausgerechnet die jetzt lebende Generation – als Verursacher, Zeugen und Verantwortliche – dazu aufgerufen war, diesen Bruch zu verhindern, und nun antreten muss, ihn zu mäßigen oder sich wenigstens gegen seine Folgen zu wappnen.

Die Macht menschlicher Technologien und Lebensstile ist nicht mehr nur auf lokale und absichtliche Eingriffe in die Natur beschränkt, sondern wirkt in globalen und geologischen Dimensionen – oft als unbeabsichtigte Neben- und Spätfolge. Der Müll, die radioaktiven Ablagerungen, die Bodenversiegelung der Gegenwart und die Folgen des Klimawandels werden noch in Millionen Jahren eine geologisch erkennbare Schicht bilden.[2] „Der Mensch“, so Peter Sloterdijk, „ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im Ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht.“[3]

Die Frage, die sich damit stellt, ist die nach der Natur dieser Verantwortung. Geht es darum, die Erde nur etwas schonender – eben „nachhaltiger“ – zu nutzen? Oder darum, wie einige Wortführer eines „good Anthropocene“ vorschlagen, technische Eingriffe in die Natur eher zu intensivieren als zu reduzieren? Ob es dabei um „Geschäftsführung“ und „Steuerung“ („stewardship“) geht oder vielmehr um einen Rückbau menschlicher Einwirkung auf Landschaften, Klimata, Arten und Meere, macht aber für die politische Vorgehensweise einen Unterschied ums Ganze.

Die Rede vom Menschen als wirkmächtiger Spezies verschleiert die Tatsache, dass es nicht alle Menschen, sondern ganz spezifische Lebensstile, Wirtschaftssysteme, Kolonialpolitik und Technologien waren und sind, die die tiefgreifende Veränderung des Lebenssystems verursacht haben. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn der Klimawandel wird zwar überproportional, aber nicht allein von der „Ersten Welt“ verursacht. Gerade der postkoloniale Aufstieg von Ländern wie China und Indien, der Zuwachs an Wohlstand in den Schwellenländern und der weltweite Bedarf an Zugang zu Energie (in Form von Elektrizität und Treibstoff) führt vor, dass „das Haus der Freiheiten in der Moderne auf einem expandierenden Fundament fossiler Brennstoffe steht“.[4]

„Anthropozän“ löst also einerseits die guten alten Schlagworte ökologischen Bewusstseins wie „Nachhaltigkeit“ oder „Umweltschutz“ ab. Andererseits fungiert der Begriff aber auch als Eintrittsbillet für ökologisches Denken in ganz neue Bereiche. Im Gegensatz zur Terminologie der klassischen Ökologie, der eine klare Trennung von Organismus und Umwelt, von Kultur und Natur zugrunde liegt, geht es beim Begriff des Anthropozäns darum, schon diese Trennung als solche infrage zu stellen. Angesichts der massiven Veränderung des gesamten Lebenssystems der Erde gibt es keine Natur außerhalb des menschlichen Zugriffs mehr. Die traditionelle Vorstellung der „unberührten Wildnis“ und des „natürlichen Gleichgewichts“, die für die Anfänge der Umweltschutzbewegung fundamental war, kann heute ad acta gelegt werden. Wo weltweit die Strömungssysteme der Luft, die Chemie der Meere und Temperaturen durch Treibhausgase verändert werden, gibt es keinen Ort mehr, der wirklich unberührt und wild wäre.[5]

Was ändert sich nun, wenn man statt von „Ökologie“ oder „Nachhaltigkeit“ von „Politik im Zeichen des Anthropozäns“ spricht? Meine Vermutung ist, dass damit einige Grundlagen des Konzepts „Nachhaltigkeit“ infrage gestellt werden müssen, damit aber möglicherweise zugleich die Grundidee der Nachhaltigkeit – eine Politik der Zukunft zu sein – eher radikalisiert als revidiert wird. Indem er den Menschen als prägende Spezies einer Erdepoche ins Zentrum rückt, verweist der Begriff des Anthropozäns ganz fundamental auf den materiellen Ort dieses Wesens im Gefüge der Natur.

Was mit dem Anthropozän auf den Plan tritt, ist aber gerade nicht der Rückfall in Naturdeterminismen, sondern die Aufforderung, Natur – sowohl eine Natur des Menschen wie auch die nichtmenschliche Welt – in anderen Kategorien zu denken. Das kann einerseits bedeuten, sich – wie Biologen, Klimawissenschaftler oder auch Paläontologen – noch einmal völlig neu Gedanken über den Menschen als Spezies zu machen, eine Spezies, die ihre ursprünglichen Existenzbedingungen „in der Mitte der Nahrungskette“ innerhalb kürzester Zeit so umfassend verändert hat, dass sie nun die Lebensbedingungen fast aller anderen Lebewesen beeinflusst und nicht selten bedroht.[6]

Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung würde erklären, warum weder der Mensch selbst noch die Ökosysteme sich dem neuen Status des Homo sapiens als dominanter Spezies evolutionär haben anpassen können. Es kann andererseits auch bedeuten, den Menschen nicht mehr als Krone der Schöpfung zu verstehen, sondern als Teilnehmer an Netzwerken sehr unterschiedlicher Handlungsträger, die Pflanzen, Tiere, Landschaften, Ressourcen, Atmosphären und Dinge umfassen.[7] Was würde es heißen, zum Beispiel Landwirtschaft nicht nur als menschliche Kulturtechnik zu denken, die auf Natur einwirkt und Natur benutzt, sondern als Handlungsgefüge zwischen Menschen, Landschaften, Tieren, Geräten, Wasserkreisläufen und Jahreszeiten zu beschreiben? Oder Menschen, Tiere und Pflanzen als Lebe-Wesen, als lebendige, fühlende und interagierende Körper und Innerlichkeiten zu verstehen, wie Andreas Weber jüngst vorgeschlagen hat.

Die Aufforderung, Natur in anderen Kategorien zu denken, kann drittens auch bedeuten, nach den materiellen Grundlagen menschlicher Existenz zu fragen, etwa nach den Interdependenzen von Energieregimen und historischer Entwicklung, dem Handel mit bestimmten Ressourcen und der Expansion von Macht. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Es würde bedeuten, Müll nicht als toten Rest zu begreifen, den man entweder vernichten, endlagern oder recyclen muss, sondern als eine aktive, „wachsende Ansammlung lebendigen und potentiell gefährlichen Materials“.[8] Abfall in einem weiteren Sinn, als Materialisierung aller selbsterzeugten Nebenprodukte und Nebeneffekte menschlicher Technologien und Lebensstile (vom CO2 über allgegenwärtiges Plastik bis zum Atommüll), erweist sich zunehmend als passiv-aggressiver Gegenspieler nicht nur des Menschen, sondern des gesamten Lebensgefüges der Erde. In dieser Hinsicht verweist der Müll auf die mit dem Anthropozän deutlich werdende Ironie menschlicher Handlungsmacht: eine Handlungsmacht, die zugleich global und tiefgreifend geworden, aber auch völlig aus der Kontrolle geraten ist.

Das bedeutet auch, die Eigendynamik und Unvorhersehbarkeit nicht-menschlicher Akteure – wie etwa des Klimasystems – als Elemente der Zukunftsprognose und Zukunftsgestaltung zu verstehen. Hochkomplexe selbstorganisierte Systeme neigen zu Emergenzen und Umschlagspunkten (tipping points), Momenten also, an denen ein stetiger quantitativer Zuwachs in einen qualitativ anderen Zustand umschlägt. Je komplexer und allgegenwärtiger das System ist, desto bedrohlicher können solche tipping points sein. Das Problem ist, dass solche systemischen Umschlagspunkte schwer abzusehen sind. Denn gerade selbstregulierende Systeme (wie Ökosysteme, Märkte oder Gesellschaften) können sich lange trotz aller krisenhaften Tendenzen immer wieder selbst in eine Balance bringen – bis Regulierung irgendwann auf einmal nicht mehr stattfinden kann, weil ein System „gesättigt“ ist. Aus einer kaum bemerkbaren Tendenz, aus winzigen Schritten entwickelt sich eine einschneidende Änderung der Verhältnisse. Diese Änderung lässt sich nicht ableiten oder vorhersehen, gerade weil sie sich einem nur winzigen quantitativen Zuwachs oder einem scheinbar zu vernachlässigenden Nebeneffekt verdankt. Anders als bei festen Körpern sind Umschlagspunkte komplexer Systeme darum ungeheuer schwer zu antizipieren. Sie sind verschleiert vom Anschein einer Stabilität oder sogar einer Stabilitätspolitik, die suggeriert, dass es „immer so weiter“ gehen kann.

Die riesigen Zeithorizonte erdgeschichtlicher Transformationen (allen voran des Klimas), die im Denken des Anthropozäns aufgerufen werden, fordern nun allerdings dazu auf, solche Emergenzen und Umschlagspunkte – und vor allem auch unser diesbezügliches Nichtwissen – in die Prognosen und Planungen von Zukunft mit einzupreisen.

Das verändert selbstverständlich auch den Horizont dessen, was man als „Nachhaltigkeit“ bezeichnet. Gerade die extrem langen Zeitdimensionen des Klimawandels verweisen darauf, dass es in der Zukunftsprognose und -planung auch darum gehen muss, die ferne Zukunft in die Perspektive mit aufzunehmen.[9]

Das heißt vor allem, die unknown unknowns sehr viel fernerer Zukünfte zumindest in known unknowns zu verwandeln, in denkbare Möglichkeiten, die auf ferne Generationen zukommen könnten. Benötigt werden dafür nicht nur neue Instrumente der Prognose, sondern vor allem auch Formen der Imagination. Die Szenarien, die Klimawissenschaftler heute für mögliche klimatische Entwicklungen durchrechnen, sind wissenschaftliche Verfahren einer solchen prognostischen Vorstellungskraft, die keine konkreten Vorhersagen macht, sondern mögliche Zukünfte entwirft. Die Neuverhandlung des Verhältnisses von Mensch und Natur im Konzept des Anthropozäns verändert also grundlegend die Horizonte unseres Zukunftshandelns: Die Wirkmächtigkeit menschlicher Technik muss mit dem Kontrollverlust über ihre Neben- und Langzeitfolgen zusammengedacht werden; denn es sollen einerseits die Nebenfolgen dieser Wirkungsmacht reduziert, andererseits soll die Kontrolle über sie erhöht werden.

Eine solche radikale Neufassung des Verhältnisses von menschlicher Lebenswelt und dem Lebenssystem der Erde im Anthropozän scheint auf den ersten Blick durchaus den Forderungen einer Politik der Nachhaltigkeit zu entsprechen, wenn „nachhaltige Entwicklung“, wie es in der klassischen Definition der Brundtland-Kommission heißt, als Entwicklung definiert wird, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Die Formulierung ist bemerkenswert vage, weil sie über die Bedürfnisse der zukünftigen Generationen keinerlei qualitative Aussagen macht.

Zwei Dinge aber werden schon aus dieser Definition klar: Erstens bezieht sich hier jede Form der Zukunftspolitik ausschließlich auf die menschliche Spezies; zweitens geht diese Definition von einer Art Erbfolge des Wohlstands aus, in der eine Generation den Wohlstand der anderen übernehmen darf – aber die globale Ungleichverteilung dieses Wohlstands keine Rolle spielt. Was die Eltern hatten, sollen die Kinder auch noch haben können. Das impliziert vor allem, dass Lebensstile oder Technologien „zukunftsfähig“ in dem Sinn sind, dass sie sich nicht die eigenen Grundlagen entziehen, also zum Beispiel weiterhin auf nichterneuerbare Energieträger setzen. Sie müssen sich unbegrenzt in der Zukunft fortsetzen können, dann sind sie „nachhaltig“.

Schon der Gründungsmythos des Nachhaltigkeitsbegriffs aus dem forstwirtschaftlichen Traktat des Hans Carl von Carlowitz – immer nur so viel Holz zu schlagen, wie nachwächst – zeigt, dass Nachhaltigkeit nicht selten weniger darauf zielt, „die Natur zu erhalten, ... sondern sie radikal zu verändern“.[10] Die Geschichte vom bewirtschafteten Wald lässt dabei vergessen, dass mit der modernen Waldwirtschaft ein ganzes Ökosystem des alten Mischwalds zerstört und mit ihm seinen menschlichen Nutzern – den Armen, die auf Kleinholz, Beerensammeln, gelegentliche Wilderei und den Wald als Weide angewiesen waren – die Existenzgrundlage entzogen wurde. Eine Allmende wurde so zur staatlich kontrollierten Ressource, und genau diese Implikationen einer guten, kontrollierten Bewirtschaftung und kontinuierlichen Nutzbarkeit haften dem Begriff „nachhaltig“ immer noch an.

Gegenüber diesem Kontinuitätsdenken bedeutet das Bewusstsein, im Anthropozän zu leben, das Gefühl eines massiven Bruchs. Gerade angesichts sehr langfristiger und in ihrer Komplexität schwer absehbarer Zukünfte muss es um eine „Logik der Schonung“ und eine „Wissenschaft vom Unterlassen“ gehen, wie Peter Sloterdijk formuliert hat.[11] Sie würde weniger auf die Perpetuierbarkeit gegenwärtiger Lebensformen für zukünftige Generationen setzen, ihr ginge es vielmehr um eine „Umkehr“ (reversal), einen Abbruch oder wenigstens tiefgreifenden Rück- und Umbau aktueller Praktiken.[12] Nachhaltigkeit im Anthropozän bedeutet also nicht die Planung zukünftiger Entwicklungen, es ist keine „Bewirtschaftung“ der Zukunft, weil darauf verzichtet wird, gegenwärtige Lebensformen in die Zukunft zu projizieren und auf Verlängerbarkeit hin anzulegen.

Denken im Bewusstsein des Anthropozäns muss hingegen darauf zielen, menschliche Lebensformen und nichtmenschliches Sein als gemeinsamen Zusammenhang zu verstehen. Klimapolitik oder Schutz von Artenvielfalt im Anthropozän sind dann nicht mehr nur Ziele, die dazu dienen, die Lebenswelt des Menschen dauerhaft zu bewahren oder zukünftige Kosten zu vermeiden – weil etwa das Aussterben bestimmter Insekten die Landwirtschaft schwer beeinträchtigen würde. Vielmehr muss eine sinnvolle Klimapolitik die nichtmenschliche Welt der Lebewesen, der Landschaften, des Klimas, der Ozeane und der Wasserzyklen zu eigenständigen Werten erklären, die in sich schutzwürdig sind. Man kann das Klima schützen, weil man den vielbeschworenen „zukünftigen Generationen“ die Folgen der globalen Erwärmung ersparen will. Aber wenn man so an die Sache herangeht, stellt sich sofort ein Konflikt ein zwischen ökologischen Zielen und wesentlich „akuteren“ Problemen wie Armut, sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit und vielem anderen mehr.

Exemplarisch führen die neuformulierten „Ziele nachhaltiger Entwicklung“ der Vereinten Nationen diese Problematik vor, und zwar genau dort, wo sie ökologische Probleme ansprechen. Auffällig ist, dass hier Ziele, die auf gänzlich unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und ganz unterschiedlichen Handlungs- und Zeitlogiken folgen – etwa „Armutsbekämpfung“, „Geschlechtergerechtigkeit“, „Frieden“ und „Klimaschutz“ unvermittelt nebeneinander stehen. Die existenzielle Dringlichkeit ökologischer Probleme wie der Zugang zu Trinkwasser, Klimastabilität oder Schutz von Ökosystemen steht neben wünschenswerten, aber nicht lebenswichtigen Zielen wie Bildungschancen, Sicherheit in Städten oder „anständigen Arbeitsbedingungen“. Klimschutz ist Katastrophenprävention für den Menschen, nicht mehr und nicht weniger. Es ist eben nicht so, dass man in jedem Fall konfliktfrei Umweltpolitik mit Wohlstandsbewahrung vereinbaren könnte. Die Ziele zu priorisieren wäre daher schon in sich eine pointierte politische Haltung gewesen – allerdings hochgradig kontrovers.

Es ist nicht gerade populär zu argumentieren, dass Klimaschutz, Energiewandel und Wasserverteilung wichtiger seien als die weltweite Anhebung des Wohlstands und der Zugang möglichst vieler Menschen zu Strom und Benzin. Würde man aber die ethische Begründung für den Schutz des Klimas über den Menschen hinausführen – als Schutz der Lebensgrundlagen aller Arten, als Schutz des Lebenssystems des gesamten Planeten –, dann ergäbe sich daraus logisch eine existenzielle Priorisierung ökologischer Zielsetzungen.

Allerdings zeigen sich dann auch die möglicherweise tragischen, weil unlösbaren Konflikte zwischen ökologischen und sozialen Entwicklungszielen. Soziale und ökonomische Gerechtigkeit sind nicht problemlos vereinbar mit Klimaschutz: „Stellen wir uns die kontrafaktische Wirklichkeit einer ökonomisch gerechteren Welt vor, mit der gleichen Anzahl von Menschen und basierend auf der Ausbeutung von billigen fossilen Energiequellen. Eine solche Welt wäre ohne Zweifel egalitärer und gerechter, zumindest was die Verteilung von Einkommen und Wohlstand betrifft – aber die Klimakrise wäre noch schlimmer! Ironischerweise verdanken wir es den Armen, das heißt einer ungleichmäßigen und unfairen Entwicklung, dass wir nicht noch mehr Treibhausgase in die Biosphäre bringen, als wir ohnehin schon tun.“[13]

Chakrabarty verweist damit auf ein Problem, das beim Menschheitspathos der Vereinten Nationen ebenso wenig berücksichtigt wird wie bei der pauschalen Berechnung des „ökologischen Fußabdrucks“: die Unvergleichbarkeit und Singularität von Kulturen, Lebens- und Wirtschaftsweisen. Und die Möglichkeit, dass hier nicht allen gleichermaßen Gerechtigkeit widerfahren kann. Womöglich ist es schlicht widersinnig, einen Reisbauern auf Sulawesi und eine Studentin aus Stuttgart als gemeinsame „Menschheit“ zu adressieren oder ihren ökologischen Fußabdruck zu berechnen, der im Fall des Reisbauern aufgrund des Methanausstoßes von Reisfeldern überraschend hoch, im Fall der ungleich wohlhabenderen, Rad fahrenden und biovegan essenden Studentin erstaunlich niedrig ausfallen dürfte. Womöglich sollte man stattdessen den Reisbauern, seine Werkzeuge, die vom Klima abhängige Wasserwirtschaft des Dorfes, die Schulden seiner Familie, den Gesundheitszustand seines Wasserbüffels, den Schneckenbefall im Reisfeld, sein Saatgut, die Anzahl und Zukunftsperspektiven seiner Kinder und die Geografie Sulawesis als eine spezifische Nachhaltigkeitsproblematik verstehen; das Rad der Studentin, ihren aufgeklärten ökologischen Lebensstil, ihre Studienwahl, die deutsche Klimapolitik, das robuste Sozialsystem und ihre daher vermutlich überschaubare Kinderzahl als eine andere.

Eine Politik der Zukunft könnte für unterschiedliche Akteure an unterschiedlichen Orten der Welt also etwas gänzlich anderes, mitunter sogar Entgegengesetztes bedeuten. Ein Denken des Anthropozäns erhebt Einspruch gegen eine Vorstellung von Zukunft, die nichts ist als das Vererben von Privilegien und Sicherheiten an die nachfolgenden Generationen. Eine echte Politik der Zukunft bestünde vor allem darin, die Zukunft offen zu halten. Offen für gänzlich andere Gefüge von Landschaften, Wirtschaftsweisen, Klimata, Menschen und Tieren; offen auch für Lebensformen, die ganz anders sind, als es die geläufige Vorstellung von der ewigen Wachstumsgesellschaft suggeriert. Diese Offenheit naher, ferner und eben auch ganz anderer Zukünfte beruht allerdings gerade auf der Stabilität existenzieller Lebensgrundlagen wie Wasser und Wetter. Diese so wenig wie möglich anzutasten, kann deshalb nicht ein Ziel unter anderen sein – es ist die Basis jedweder vorstellbaren Zukunft.
 

1. Paul J. Crutzen: Geology of Mankind. In: Nature, Nr. 415 vom 3. Januar 2002.

2. Vgl. Jan Zalasiewicz: Die Erde nach uns. Der Mensch als Fossil der fernen Zukunft. Heidelberg: Spektrum 2009.

3. Peter Sloterdijk: Das Anthropozän: ein Prozess-Zustand am Rande der Erd-Geschichte? In: Jürgen Renn / Bernd Scherer (Hrsg.): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge. Berlin: Matthes & Seitz 2015.

4. Dipesh Chakrabarty: The Climate of History. Four Theses. In: Critical Inquiry, Nr. 2, Winter 2009.

5. Vgl. Emma Marris: Rambunctious Garden. Saving Nature in a Post-Wild World. New York: Bloomsbury 2011.

6. Vgl. Yuval Noah Harari: Sapiens. A Brief History of Humankind. New York: Harper 2015.

7. Vgl. Ursula Heise: Posthumanismus. Den Menschen neu denken. In: Nina Möllers u. a. (Hrsg.): Willkommen im Anthropozän. München: Deutsches Museum 2015.

8. Vgl. Jane Bennett, Vibrant Matter: A Political Ecology of Things. Durham: Duke University Press 2010; vgl. Gay Hawkins: The Ethics of Waste. How We Relate to Rubbish. Landham: Rowman & Littlefield 2005.

9. Vgl. Klaus Töpfer: Nachhaltigkeit im Anthropozän. In: Nova Acta Leopoldina, Nr. 398, 2013.

10. Stefan Kaufmann: Nachhaltigkeit. In: Ulrich Bröckling u. a. (Hrsg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt: Suhrkamp 2004.

11. Peter Sloterdijk: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Frankfurt: Suhrkamp 1987.

12. Amitav Ghosh: The Great Derangement. Climate Change and the Unthinkable. University of Chicago Press 2016.

13. „Imagine the counterfactual reality of a more evenly prosperous and just world made up of the same number of people and based on exploitation of cheap energy sourced from fossil fuel. Such a world would undoubtedly be more egalitarian and just – at least in terms of distribution of income and wealth – but the climate crisis would be worse! It is, ironically, thanks to the poor – that is, to the fact that development is uneven and unfair – that we do not put even larger quantities of greenhouse gases into the biosphere than we actually do.“, Dipesh Chakrabarty, Climate and Capital. On Conjoined Histories. In: Critical Inquiry, Nr. 1, Herbst 2014.

Autorin

Eva Horn ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien, Österreich. Sie ist die Autorin von Zukunft als Katastrophe (Fischer Verlag 2014) und, zusammen mit Hannes Bergthaller, der Junius-Einführung Anthropozän (Junius 2019). Das Buch bietet einen differenzierten Einblick in die Debatten in Politik, Wissenschaft und Kunstbetrieb, die sich aus der Gegenwartsdiagnose des Anthropozäns ergeben. Darüber hinaus publiziert sie regelmäßig kulturwissenschaftliche Essays zu aktuellen Fragen. 2020 erhielt sie dafür den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste.

[Bild: © Helmuth Grünbichler]