Artikel

Wer schön sein will, muss filtern

Jenni Zylka

In: tv diskurs: 26. Jg., 1/2022 (Ausgabe 99)

In der FaceApp lassen sich verschiedene sogenannte „Schönheitsfilter“ auf ein Selfie legen. Mit „Kuss“ hat man einen Mund wie Angelina Jolie, mit „Hollywood 2“ sieht man aus wie ein 16-jähriges Love Child zwischen Jessica Biel und dem virtuellen Popstar Hatsune Miku. Und mit „Seide“ verschwindet alles im Gesicht, was über 25 ist.

Schönheit ist eben nicht relativ: Trotz des inzwischen jahrzehntelangen Kampfes um die Akzeptanz der Verschiedenartigkeit auf allen Ebenen, trotz mehrerer Frauenbewegungen und Body-Positivity-Movements, trotz des Wissens darum, dass ein „gesund“ und damit attraktiv wirkendes, also reines, junges Hautbild mit ebenmäßigen Zügen spätestens seit der Nutzung und Erforschung von Medizin und Kosmetik für viel mehr Menschen in den Bereich des Möglichen gerutscht ist – und damit nicht mehr unbedingt für die einen Fortpflanzungserfolg versprechende „Gesundheit“ stehen muss –, haben sich die Ideale in den letzten Jahrzehnten und den dementsprechenden neuen Generationen kaum verändert.

Im Gegenteil. Anstatt die Vielfalt von Gesichtsformen, Nasen, Augen, Mündern zu umarmen, ähneln sich die gefilterten Instagram- und Snapchat-Bilder und TikTok-Videos, die vor allem junge Frauen einstellen, wie ein Model dem anderen. In einer Reportage für das Magazin Technology Review des Massachusetts Institute of Technology (MIT), die im August auf Deutsch bei heise online erschien, hat sich die Journalistin Tate Ryan-Mosley mit dem Thema beschäftigt. „[…] Gesichtsfilter sind die wohl am weitesten verbreitete Anwendung von Augmented Reality (AR)“, schreibt Ryan-Mosley. „Forscher verstehen ihre Auswirkungen noch nicht, aber sie glauben zu wissen, dass es echte Risiken gibt – und dass es vor allem junge Mädchen sind, die diesem Risiko ausgesetzt sind. Sie sind Versuchspersonen in einem Experiment, das zeigen soll, wie Technologie unsere Identität, unsere Selbstdarstellung und unsere Beziehungen beeinflusst“ (Ryan-Mosley 2021).

Der Artikel nennt beeindruckende Zahlen: Mehr als 90 % der Jugendlichen in den USA, Frankreich und Großbritannien nutzen nach Angaben von Snapchat die AR-Filter des Unternehmens. Laut Facebook und Instagram verwenden über 600 Mio. Menschen mindestens einen ihrer AR-Effekte, dazu kommen weitere Filter-Anbieter, deren Produkte ebenfalls millionenfach genutzt werden. Angefangen habe es bei vielen, so schreibt Ryan-Mosley, mit dem Spaß an der Verkleidung, an „lustigen“ und harmlosen Filtereffekten wie Tiernasen oder Tiergesichtern. Ein paar Minuten Berühmtheit erlangte so beispielsweise der texanische Anwalt Rod Ponton, der im Februar 2021 die Kollegen in einer Zoomkonferenz als flauschig-weiße Babykatze begrüßte, weil er den von seiner Assistentin oder deren Tochter eingestellten Filter nicht ausschalten konnte. Der von den Medien schnell betitelte „Cattorney“ blieb für seinen verzweifelten Stoßseufzer „I’m not a cat!“ in guter kollektiver Erinnerung (Der Standard 2021). Aber bis auf sehr wenige Ausnahmen mit (ferndiagnostizierten) körperdysmorphen Störungen wie bei der von US-amerikanischen Medien als „Catwoman“ bezeichneten Socialite Jocelyn Wildenstein werden sich die meisten jungen Filternutzerinnen kaum tatsächlich als Katze sehen wollen und später dementsprechende Operationen in Betracht ziehen.

Die Folgen des Verlangens nach einem filtergetriggerten „perfekten“ Gesicht, das man in den sozialen Medien zur Schau stellen kann, sind dagegen höchst präsent: „Junge Mädchen […] sehen AR-Filter vor allem als Werkzeug zur Verschönerung“, schreibt Ryan-Mosley (2021). Bereits 2014 wurde an der Florida State University der Zusammenhang zwischen Facebook-Nutzung und dem Anstieg des Risikos einer Essstörung untersucht. In zwei Studien gaben über 2.000 Frauen Auskunft zu ihrem Essverhalten und ihrem Gebrauch von Facebook, das damals – im Gegensatz zu heute – das Portal der Wahl unter jüngeren Menschen war. In einer Querschnittstudie konnte empirisch nachgewiesen werden, dass die Wahrscheinlichkeit für ein gestörtes Essverhalten mit stärkerer Facebook-Nutzung steigt. Und die Arbeit wies noch auf eine weitere Gefahr hin: „Überdies können soziale Medien ein ungesundes Schlankheitsideal durch das Posten, Liken und Kommentieren von idealisierten Bildern verstärken“, befanden die Autor:innen der Studie Do you „like“ my photo?: Facebook use maintains eating disorder risk (Mage/Forney/Keel 2014).

Auch Ryan-Mosley erwähnt in ihrem Artikel die Wechselwirkung von virtuellem Zeigen und umgehender herz- oder daumenförmiger Belohnung, sie zitiert die Pädagogik-Dozentin Claire Pescott, die an der University of South Wales das Verhalten von Kindern in den sozialen Medien erforscht: „[…] sie ist besorgt über die Art und Weise, wie Social-Media-Plattformen sofortiges Feedback in Form von Likes und Kommentaren liefern. Junge Mädchen, sagt sie, haben besondere Schwierigkeiten, gefilterte von normalen Fotos zu unterscheiden. Pescotts Untersuchungen ergaben auch, dass Kinder zwar häufig über die physischen Gefahren von Social Media aufgeklärt werden, aber nur »sehr wenig« über deren »emotionale, nuanciertere Seite, die meiner Meinung nach gefährlicher ist«“ (Ryan-Mosley 2021).

Den Portalen wie Facebook und Snapchat ist zwar bewusst, dass diese unnatürlichen Körper- und Gesichtswahrnehmungen zu Körperstörungen führen können – nach Eigenangaben lassen sie sich regelmäßig von Expert:innengruppen wie der National Eating Disorders Association (NEDA) beraten und markieren gefilterte Fotos. Immer wieder reagieren zudem Zeitungen, Zeitschriften, Initiativen und Kampagnen mit dem Propagieren und Veröffentlichen von angeblich (nachprüfen lässt sich das nicht) „ungefilterten“, nicht bearbeiteten Fotos. Doch das scheint nicht auszureichen: Laut der Statistikdatenbank Statista ist die Anzahl an Essstörungen wie Magersucht und Bulimie in den letzten zehn Jahren stark gestiegen (Radtke 2021). Auch der Anteil von Männern und Jungen mit diesem Krankheitsbild schnelle in Deutschland in die Höhe, schrieb das Deutsche Ärzteblatt unter Berufung auf Zahlen der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) (Reichardt 2020).

Neben der Essstörung kann die Zunahme von Operationen und nichtinvasiven Eingriffen eine weitere Folge der auch durch Schönheitsfilter befeuerten, wachsenden Unzufriedenheit mit dem Körper sein: Botox- und Hyaluronspritzen bekommt man inzwischen in Deutschland „to go“, die Nachfrage steigt momentan vor allem im Zusammenhang mit der erhöhten Nutzung von Videokonferenzen. Denn wenn man sich beim Zoomen stundenlang in das eigene, oft auch noch unvorteilhaft beleuchtete und leicht verzerrte Gesicht schaut, steigert das bei vielen Menschen die Unzufriedenheit (Deutschlandfunk Kultur 2021).

Dass Großbritannien im November 2021 eindeutig an Teenies sich richtende Werbeanzeigen für Eingriffe wie „Nose Jobs“, Brustvergrößerungen oder Fettabsaugung auf sämtlichen sozialen und analogen Kanälen verbieten ließ, lässt in diesem Zusammenhang tief blicken. Denn Schönheitsoperationen an Minderjährigen waren bereits vorher nicht erlaubt, das Werben dafür allerdings schon. Und natürlich sind sämtliche Kosmetikprodukte, die angeblich perfekte Schönheit versprechen, vom Verbot ausgeschlossen. Die britische NGO Advertising Standards Authority (ASA) hatte darum schon Anfang 2021 dafür plädiert, Social-Media-Stars und Influencerinnen bei deren Produktwerbung stärker in die Verantwortung zu nehmen (Sweney 2021).

Doch etwas steht den Bemühungen von Beteiligten, Leidtragenden, Beobachter:innen oder besorgten Eltern entgegen: Das Ganze ist ein Riesenmarkt. Von schwachen Unzufriedenheiten oder weit entwickelten Körperstörungen profitieren einfach zu viele unterschiedliche Branchen. Auch die Formatentwickler für Medien – sie haben sogar eine recht einfache Methode gefunden, um die Gefahr einerseits zu verdammen, aber andererseits für sich zu nutzen. Realityformate wie die deutsche Serie Beauty Docs, die neue Serie Die Schwarzwald Docs oder die Mutter aller Reality-Plastic-Surgery-Shows, die von 2002 bis 2007 ausgestrahlte ABC-Produktion Extreme Makeover, präsentieren die Ausbeutung und Zurschaustellung der Körperprobleme ihrer Kandidat:innen gern im Gewand einer kritischen Berichterstattung. Und stellen Jugendschützer:innen beim Evaluieren immer wieder vor das Problem, Unverhältnismäßigkeit oder den nachvollziehbaren Willen nach Veränderung beurteilen zu müssen: Inwiefern darf man einem Menschen, der mit seinem Bauch, seinen Brüsten oder seiner Nase unzufrieden ist und behauptet, darunter zu leiden, dieses Leid in Absprache stellen? Es ist schwer, zwischen „nicht notwendigen“ und subjektiv bestimmt notwendigen Operationen zu unterscheiden – vor allem, wenn man nicht die behandelnde Psychotherapeutin ist. Sogar Serien wie die auf Netflix laufende Hautschau Skin Decision: Before and After, die sich vorgeblich um Opfer von Straftaten oder Unfällen kümmert und in der z. B. sichtbare Narben entfernt werden, gibt unter psychologischen Gesichtspunkten zumindest zu denken: Ist es sinnvoll, notwendig oder eben manchmal auch gefährlich, die Erinnerung an ein Trauma auszulöschen bzw. wegzulasern, wenn das Trauma dennoch tief im Körper präsent sein kann? Darauf geben Formate wie die genannten Realityshows, deren Intention vor allem das Marketing für die jeweiligen Ärzt:innen und Kliniken ist, keine ausreichende Antwort.

Zudem tut sich die Frage auf, ob sich Body Positivity, also das Akzeptieren jeglicher Körperformen, predigen lässt, wenn man andererseits eine „Botox Positivity“ ablehnt: Ist das Kritisieren von Körper-Entscheidungen anderer Menschen nicht in jedem Fall übergriffig und unterscheidet sich darüber hinaus eh nur graduell? Warum ist es gesellschaftlich akzeptiert, sich aus reiner Verschönerung die Zähne weißen oder die Ohrläppchen durchbohren zu lassen, aber in manchen Kreisen verpönt, sich mal eben eine Hyaluronspritze abzuholen, selbst wenn die Unzufriedenheit über angebliche oder tatsächliche Falten von Schönheitsfiltern evoziert wurde? Die in dem Piks enthaltene, normalerweise übersichtliche Gefahr nimmt schließlich jede:r für sich selbst in Kauf.

Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner hat sich im Juni 2021 in einem Interview mit dem Monopol-Magazin zu den vielen Fallstricken des Themas „Body Positivity“ geäußert: „Das Perfide ist, dass natürlich auch die Body-Positivity-Bewegung kapitalisiert wird und diese Produkte mit vermeintlich »exotischen« Körpern beworben werden, die oft aber nur minimal von den geltenden Normen abweichen. Auch der Aktivismus wird vereinnahmt“ (Lechner in: Trebing 2021). Darum verweist sie auf den von der US-amerikanischen Aktivistin, Fotografin und Autorin Jes Baker mitgeprägten Begriff der „Body Neutrality“, der einen etwas entspannteren Umgang erlauben soll, weil er den Körper komplett von ästhetischen äußerlichen Einschätzungen befreit. Man muss demnach weder alles an sich selbst lieben noch die ganze Zeit stolz ausstellen, sondern eine neutrale Haltung dazu finden. Die Falten, die Akne, der Bauch – egal. In einer „lookistischen“ Welt, in der – siehe Fortpflanzungstrieb – auf bestimmte als „schön“ geltende Merkmale stärker reagiert wird, ist das eine schwierige Aufgabe. Aber vielleicht nicht unlösbar.

Vielleicht muss man den Umgang mit artifiziellen Selbstbildern auch einfach nur viel stärker im Spielerischen ansiedeln: Programme wie die FaceApp bieten neben dem (übrigens nie so bezeichneten) „Verschönern“ des eigenen Gesichts meist noch weitere Filterfunktionen an – man kann sich alt aussehen lassen, sich mit Bärten und anderen Frisuren ausstatten oder das Gesicht „vergrößern“, das Wort „dick“ wird sorgsam vermieden. Die schönste und albernste Funktion ist der Filter „Unsere Kinder“: Mit ihm lädt man das Gesicht eines Prominenten (oder eines Bekannten) aus dem Internet oder dem lokalen Ordner und lässt durch einen dürftigen Algorithmus, der leider meist recht ähnliche Bilder ausspuckt, ausrechnen, wie die gemeinsame Tochter oder der gemeinsame Sohn aussehen könnte. Das geht wohlweislich auch mit gleichgeschlechtlichen Kandidat:innen. Das Love Child einer durchschnittlichen, 52-jährigen, rothaarigen Journalistin und Ruth Bader Ginsburg sähe demnach ein bisschen aus wie der junge Macaulay Culkin. Der Sohn, den dieselbe Journalistin mit Henry Cavill hätte, dagegen wie ein Darsteller aus einer jugendlichen Fantasyserie. Beide Kinder sind dabei selbstredend extrem süß.

Der Standard: „I‘m not a cat“: Zoom-Filter verwandelt Anwalt während Gerichtsanhörung in Katze. In: derstandard.de, 10.02.2021. Abrufbar unter: https://www.derstandard.de.

Deutschlandfunk Kultur: Schönheitsdiktat im Internet. Mit Botox, Hyaluron und OP zum Instagram-Gesicht. Silvi Carlsson im Gespräch mit Boussa Thiam. In: deutschlandfunkkultur.de, 19.10.2021. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de.

Mage, A. / Forney, K. / Keel, P. K.: Do you „like“ my photo?: Facebook use maintains eating disorder risk. Florida State University 2014. Abrufbar unter: https://diginole.lib.fsu.edu.

Radtke, R.: Anzahl der in deutschen Krankenhäusern diagnostizierten Fälle von Anorexie und Bulimie in den Jahren 2000 bis 2019. In: statista.com, 20.10.2021. Abrufbar unter: https://de.statista.com.

Reichardt, A.: Magersucht, Bulimie, Binge-Eating: Anteil von essgestörten Männern nimmt zu. In: Deutsches Ärzteblatt, 7/Juli 2020. Abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de.

Ryan-Mosley, T.: Warum Schönheitsfilter ein Massenexperiment an Mädchen und jungen Frauen sind. Eine Art von Falschheit. In: heise online, 05.08.2021. Abrufbar unter: https://www.heise.de.

Sweney, M.: Cosmetic surgery ads aimed at under-18s to be banned in UK. In: theguardian.com, 25.11.2021. Abrufbar unter: https://www.theguardian.com.

Trebing, S.: „Wir müssen den Selbsthass nehmen und ihn gegen die Strukturen richten“. Interview mit Elisabeth Lechner. In: monopol-magazin. de, 03.06.2021. Abrufbar unter: https://www.monopol-magazin.de.

Autorin

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin, Filmkuratorin, Journalismusdozentin und Geheimagentin. Sie arbeitet für Radio, Print- und Onlinemedien, u. a. Spiegel Online, taz, Tagesspiegel, Rolling Stone, WDR, RBB, Deutschlandradio, Berlinale, Filmfest Emden, Filmfest Dresden und Akademie für Mode und Design. Sie veröffentlichte bei Rowohlt und Suhrkamp.