Verschwörungstheorien
Alternative Welterklärungen jenseits der Fakten
Medienradar, 10/2022
Spekulationen über die Entstehung unserer Erde und der Menschheit allgemein oder darüber, welche Mächte uns tatsächlich beherrschen, gab es immer schon. Wir können nur schwer damit leben, dass wir nur einen sehr kleinen Teil der Wirklichkeit tatsächlich verstehen. Deshalb entwickeln Menschen seit jeher mehr oder weniger realistische Erklärungsmodelle, viele davon sind sogar ziemlich absurd. Durch das Internet finden solche Verschwörungstheorien heute eine vorher nie dagewesene Verbreitung. Manche sind harmlos, viele aber sind äußerst gefährlich.
Informationen über die Welt erhalten wir durch die Familie, Freunde, Bekannte und die Schule – das meiste aber wissen wir durch die Medien. Der Soziologe Niklas Luhmann fasste das in seinem bekannten und viel diskutierten Satz zusammen: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.“[1] Gleichzeitig bilden Medien nicht die Wirklichkeit ab, so Luhmann. Während bei den klassischen Medien (Zeitungen, Fernsehen, Radio und Kino) noch eine gewisse Professionalität vorausgesetzt werden kann, etwa die Einhaltung des Pressekodex des Deutschen Presserats, können Nutzer*innen in sozialen Netzwerken fast alles posten, was ihnen beliebt. Klassische Medien als auch offizielle Internetplattformen müssen um ihren Ruf und damit ihren Umsatz fürchten, wenn sie bei ihren Recherchen oder Darstellungen Fehler machen. Falschmeldungen bei privaten Posts bleiben dagegen deutlich häufiger folgenlos.
Wenn es darum geht, Klicks zu generieren, scheinen Desinformationen zum Geschäftsmodell zu werden: „Um Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange auf den Plattformen zu halten, damit sie möglichst viel Aufmerksamkeit und Interaktionen dort lassen, tendieren soziale Medien zu Radikalisierung und Polarisierung […]. Im Jahr 2016 bestand ein Drittel der großen politischen Facebook-Gruppen in Deutschland aus extremistischen, von Rassismus und Verschwörungslegenden geprägten Gruppen, deren Mitglieder größtenteils über Facebooks eigene Empfehlungssysteme rekrutiert wurden, d. h., Facebook schlug Nutzern aktiv vor, diese Gruppen könnten ihnen gefallen […]. Wenn es um politische Kommunikation von Parteien und Politikern geht, verbreiten sich emotionale, negative Botschaften und »attack messages« besonders gut […], wovon vor allem populistische Akteure profitieren […].“[2]
Der Wiener Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm hat eine hohe Internetaffinität bei Anhängern von Verschwörungstheorien festgestellt: „Menschen mit Neigung zu Verschwörungstheorien entwickeln nach unseren Befunden ein besonders großes Internetvertrauen, während sie Presse und Fernsehen eher misstrauen. Sie sind stärker als andere an heterodoxen Wissensbeständen interessiert, die nicht dem allgemeinen Konsens unterliegen. Dahinter steckt, was seit der Aufklärung oder spätestens seit der Postmoderne ein Leitgedanke geworden ist, nämlich, dass man alles in Zweifel ziehen kann: Alles steht unter Fake-Verdacht und wird auf Inszenierungs- und Manipulationsabsichten hinterfragt. In diesem Dschungel der Verstellung verschwimmen die Grenzen zwischen Fake und Fakten, es ist ja eh »alles konstruiert«. Das ist die Stunde »alternativer Fakten«, die der [ehemalige] amerikanische Präsident Donald Trump für seine Lügengeschichten reklamiert [hatte]. Und er [...] [kam] vielfach durch damit. Das relativistische und postmoderne Denken des »anything goes« wird durch soziale Netzwerke im Internet verstärkt, weil dort ein Wahrheitskriterium im Sinne der Prüfung von Hypothesen an einer äußeren Wirklichkeit strukturell fehlt und durch Klicks ersetzt worden ist.“[3]
Rezeption zwischen Vertrauen und Skepsis
Medial vermittelte Informationen sind selten direkt nachprüfbar. Aber Journalist*innen können sich irren, aus Sensationslust können sie bestimmte Fakten hervorheben und andere unterdrücken. Sie können bewusst ein falsches Bild abliefern, weil sie mit Tatbeteiligten sympathisieren oder andere nicht mögen. Die Nutzer*innen müssen entscheiden, was sie glauben und wem sie misstrauen. In freiheitlichen Gesellschaften ist die Verbreitung gegensätzlicher Meinungen und Darstellungen nicht nur erlaubt, sondern gewollt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass es die einzige Wahrheit nicht gibt, sondern immer verschiedene Sichtweisen möglich sind. Die Bevölkerung muss sich daraus selbst ihre Interpretation von Wirklichkeit und Wahrheit konstruieren. Keine Meinung sollte unterdrückt werden.
Diesen Relativismus von Werten und Erklärungsnarrativen („anything goes“) erleben viele Menschen als Überforderung, sodass eine Sehnsucht nach geschlossenen Erzähl- und Erklärungsstrukturen entsteht. Diese Sehnsucht steigt, je mehr das eigene Leben als unbefriedigend oder ungerecht wahrgenommen wird und man sich selbst als Verlierer*in in Krisenzeiten sieht. In solchen Situationen suchen Menschen nach Narrativen, welche die Schuld an der Misere vor allem außerhalb der eigenen Verantwortung festmachen. Menschen, die sich einmal für ein solches Narrativ entschieden haben, selektieren Informationen danach, ob sie in diese gedankliche Konstruktion passen oder nicht.
Es geht dabei um die Reduzierung von Komplexität auf ein einfaches Narrativ, das den Menschen plausibel erscheint. Die Wirklichkeit ist zu komplex, um sie zu verstehen, sie ist nur in kleinen Ausschnitten zugänglich. Dennoch versucht unser Gehirn automatisch, Muster zu erkennen und daraus Strukturen und Sinnzusammenhänge zu konstruieren, um in der Zukunft Entscheidungsgrundlagen zu optimieren. Es bindet die Fakten so zusammen, dass wir die Ergebnisse für plausibel halten: „Im Rahmen der Neurowissenschaften wird auch vom »Predictive Coding« gesprochen. Damit wird eine Theorie bezeichnet, die wesentlich von Karl Friston erarbeitet wurde. Dieses Modell erklärt, wie es gelingt, dass wir zu jedem Zeitpunkt ein Gesamtbild der Welt wahrnehmen, obwohl wir immer nur einen kleinen Ausschnitt detailliert wahrnehmen. Die innere Repräsentation der Welt ist das Resultat einer langen Reihe von Versuch und Irrtum. Die Konzentration auf Unterschiede zwischen erwarteter und tatsächlicher Wahrnehmung spart auch »Rechenleistung«.“[4] Evolutionär ist für unser Gehirn Geschwindigkeit dabei immer wichtiger als Präzession.
Was das für Folgen haben kann, zeigt der Journalist Robert B. Fishman: Mediale Informations- und Unterhaltungsangebote explodieren, selbst bei hoher Nutzung kann man nur einen geringen Teil wahrnehmen. „Eine unüberschaubare Menge an Informationen könne sich negativ auf die Gesundheit auswirken, befindet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Informationsflut verstärke Stress und Sorgen. Und sie bringe Menschen womöglich dazu, gefährlichen Ratschlägen zu folgen. Im Iran seien 400 Menschen gestorben, weil sie nach Falschinformationen Methanol zum Schutz vor Corona eingenommen hätten. […] Zu viele Informationen schaden oft mehr, als sie nutzen. So konnten sich die vielen Falschinformationen zur Corona-Pandemie auch deshalb so schnell verbreiten, weil sich die Menschen in der Fülle an Meldungen und Berichten zum Thema verloren fühlten. Einige Virologen widersprachen sich gegenseitig. Viele mussten heute schon Erkenntnisse relativieren, die sie gestern als gesichert verbreitet hatten. Aus der Politik kommen fast täglich neue Empfehlungen und Vorgaben, die sich auch von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Angesichts der Verwirrung fielen im Ton der Gewissheit vorgebrachte Verschwörungsmärchen bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden.“[5]
Welterklärungsnarrative in Krisenzeiten
Bei Verschwörungstheorien handelt es sich um Erzählungen, welche die Welt, bestimmte Entwicklungen oder Ereignisse durch eine Erzählung alternativ zum gesellschaftlichen Mainstream erklären. Sie beruhen mehr auf Vermutungen als auf Fakten. Auch Religionen oder religiöse Sekten gehören in gewisser Weise dazu: Sie erklären die Schöpfung unserer Welt, versprechen uns ein Leben nach dem Tod und fordern die Einhaltung bestimmter Regeln, die angeblich dem Propheten Moses auf dem Berg Sinai von Gott übergeben wurden – dabei ist die Beweis- und Faktenlage dünn, wenn überhaupt vorhanden: niemand hat je mit Gott gesprochen, selbst die Propheten, quasi die einzigen Zeugen, sind längst tot. Kein*e Richter*in würde aufgrund dieser Beweislage ein Urteil sprechen. Aber solche Narrative können durchaus sinnstiftende Funktionen übernehmen, quasi die Sinngebung des Sinnlosen: Von Voltaire stammt der Satz „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.“[6] Wie Verschwörungstheorien verbreiten Sekten weniger Theorien, sondern eher Behauptungen. Man muss an das Narrativ glauben. Menschen können schlecht damit leben, einen Zustand, den sie nicht irgendwie erklären können, als gegeben hinzunehmen – sie glauben dann lieber an eine erfundene Erzählung, auch wenn sie irrational ist oder sich nicht beweisen lässt.
Sekten und Verschwörungstheorien entstehen vor allem in Krisenzeiten: die Lage wirkt bedrohlich, sie verlangt von den Menschen Verzicht und schafft Verlust- und Existenzängste. Die von der Politik getroffenen Regelungen zur Bekämpfung der Krise werden als unwirksam oder als ungerechte Zumutung wahrgenommen und man sucht nach Erklärungen, die diese Ablehnung stützen. Die meisten Sekten entstanden im 19. Jahrhundert in den USA, weil aufgrund der vielen unterschiedlichen Kulturen und Religionen und mangels einer Amtskirche religiöse Orientierungslosigkeit herrschte. Wie bei Verschwörungstheorien gibt es harmlose, aber auch gefährliche Sekten. In der Vergangenheit kam es oft vor, dass Sektenmitglieder ihrem Guru bis in den Tod folgten: „November 1978: In der Siedlung Jonestown im Dschungel Guyanas (Südamerika) begehen 923 Mitglieder der amerikanischen Volkstemplersekte den wohl größten Massenselbstmord in der Geschichte. […] Oktober 1994: 53 Mitglieder des »Ordens der Sonnentempler« werden tot aufgefunden – 48 in der Schweiz und fünf in Kanada. Die verkohlten Leichen weisen Einschüsse und Spuren von Injektionen auf.“[7] Dies sind zwei von neun Beispielen zwischen 1978 und 1998, die in einem Artikel des Spiegels aufgeführt werden.
Die Theorie der kognitiven Dissonanz
Der US-Psychologe Lion Festinger schloss sich in den 1950er-Jahren einer Sekte an, die ihren Mitgliedern versprach, an einem bestimmten Tag würde eine Wolke kommen und sie mit in den Himmel nehmen. Festinger ging davon aus, dass dieses Versprechen nicht eingelöst und die Wolke nicht kommen würde: was bedeutet das aber für die Mitglieder? Er vermutete, dass die Menschen die Sekte verlassen würden, wenn sich der Kern ihres Narrativs als Lüge herausstellte. Solche Endzeitvisionen sind bei Sekten häufig, zum Beispiel gehen die Zeugen Jehovas davon aus, dass die Erde 10.000 Jahre existieren wird, und errechneten das Jahr 1914 als Weltende: „Hurra, die Welt geht unter! Silvester 1975 tat das nur die Sonne. Und ging an Neujahr gleich wieder auf – enttäuschend für die Zeugen Jehovas. Sie hatten dem Jüngsten Gericht entgegengefiebert und sich geirrt. Schon wieder. […] Die Zeugen Jehovas glauben, dass Jesus 1914 im Himmel zu herrschen begann und Satan auf die Erde vertrieben habe. Die erste angekündigte Apokalypse, die dann wie alle weiteren ausfiel, hatte für sie eine entscheidende Veränderung gebracht: Ab jetzt tickte die Weltuntergangsuhr unaufhörlich. Die nun lebende Generation sollte bei den »letzten Tagen« dabei sein – und somit das Königreich Gottes genießen, teils im Himmel und teils in einem auf Erden wiederhergestellten Paradies.“[8]
Auch in Festingers Sekte führte die Enttäuschung darüber, dass die Prophezeiung des Glaubens ein Fake war, nicht zur Abkehr vom Glauben. Stattdessen erfanden die Sektenanhänger*innen Erklärungen: Es gab noch zu wenig Sektenmitglieder, der Sektengründer hatte sich verrechnet oder Gott hat es sich anders überlegt. Festinger formulierte aufgrund dieser Erfahrung die Theorie der kognitiven Dissonanz: Wenn Menschen eine feste Überzeugung gewonnen haben, empfinden sie Informationen, die ihren Überzeugungen widersprechen, als dissonant und wehren sie ab. Sie suchen nach Erklärungen, um die widersprechenden Informationen mit der bestehenden Überzeugung in Einklang zu bringen.[9]
Der Soziologe Karl-Dieter Opp beschreibt die Möglichkeiten, Dissonanzen zu reduzieren, am Beispiel eines Rauchers (er nennt ihn Ego), der seine Sucht mit der Gefahr gesundheitsschädlicher Folgen in Einklang bringen will: Rein logisch könnte er mit dem Rauchen aufhören oder die möglichen gesundheitlichen Auswirkungen akzeptieren. „Neben diesen rein logischen Möglichkeiten, dissonante Beziehungen zu verändern bzw. zu vermeiden, bestehen auch empirisch verschiedene Möglichkeiten, die analysiert werden müssen, bevor eine Voraussage über die Art und Weise gemacht werden kann, wie Ego seine Dissonanz reduziert. Ego kann z. B. in verschiedener Weise seine Ansicht ändern, daß Rauchen gesundheitsschädigend ist. Er kann die Glaubwürdigkeit bestimmter Wissenschaftler, die diese Hypothese vertreten, bezweifeln. Ego kann einfach bestimmte Informationen nicht lesen. Ego kann glauben, die Zeitungen berichteten falsch usw.“[10]
Fakten werden also nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie der eigenen Position widersprechen, an der man festhalten will. Ähnliches beschreibt auch Hans Rosling, ehemals Professor für Internationale Gesundheit in Schweden, in seinem viel beachteten Buch Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Selbst gebildete Menschen merken sich bei Vorträgen weniger die vermittelten Fakten, sondern ihre eigene Interpretation davon: „Denn ich musste betrübt feststellen, dass selbst die Leute, denen meine Vorträge gefielen, gar nicht richtig zuhörten. Vielleicht waren sie für den Moment inspiriert, aber nach dem Vortrag waren sie noch immer tief in ihrer alten, negativen Weltsicht gefangen. Die neuen Ideen schlugen einfach nicht an. Selbst unmittelbar nach meinen Präsentationen hörte ich, wie Leute Ansichten über Armut und Bevölkerungswachstum sagten, die ich soeben mit Fakten widerlegt hatte.“[11]
Den Grund für diese Fehlinterpretation von Fakten sieht Rosling in der Denkstruktur des Menschen: „Meiner Ansicht nach liegt es daran, dass der Mensch eine ausgeprägte Neigung zu binärem Denken hat, einen grundlegenden Drang, die Dinge in zwei unterschiedliche Gruppen einzuordnen, zwischen denen es nur einen leeren Raum geben kann. Wir lieben die Dichotomisierung. Gut gegen Böse. Helden gegen Schurken. Mein Land gegen alle anderen. Die Welt in zwei unterschiedliche Seiten zu unterteilen ist einfach und entspricht der Intuition […].“[12] Dieser binäre Blick finde sich auch in der Berichterstattung wieder, so Rosling: „Journalisten sind sich dessen bewusst. Sie präsentieren ihre Erzählungen gern als Konflikte zwischen zwei widerstreitenden Völkern, Weltsichten oder Gruppen. Sie bringen lieber Geschichten über extreme Armut und über Milliardäre als Berichte über die große Mehrheit der Menschen, die langsam auf ein besseres Leben hinarbeiten. Journalisten sind Geschichtenerzähler. Ebenso die Leute, die Dokumentar- und Kinofilme produzieren.“[13]
Corona
Die Coronakrise ist ein Beispiel dafür, unter welchen Bedingungen solche Narrative aus dem Boden schießen: ein abstraktes Virus, von dem jeder redet, das man aber nicht sehen kann, legt die gesamte Gesellschaft lahm. Wirtschaftliche Existenzängste entstehen, natürlich auch die Angst vor der Krankheit. Durch die Maskenpflicht oder das Homeoffice fühlen sich viele ungerechtfertigt bevormundet; Menschen, die mit mehreren Kindern in kleinen Wohnungen leben und das Haus nur zum Einkaufen verlassen dürfen, bekommen Platzangst und wissen nicht, wie sie Kinderbetreuung und Homeoffice zusammenbringen sollen. Diese Verzweiflung sucht nach Erklärungen. Und da fragen sich manche: Wem nutzt das?
Hinzu kommt: das Coronavirus ist neu und auch die Expert*innen müssen erst Erfahrungen machen und Studien darüber durchführen, wie sich das Virus vermehrt und wie gefährlich es bezüglich Langzeitfolgen oder Sterbequoten ist, bevor sie verlässliche Aussagen machen können. Menschen, die nicht wissen, dass Studien viel Zeit brauchen, wundern sich, dass sich die Prognosen ständig ändern. Und dann gibt es plötzlich einen Impfstoff, obwohl so eine Entwicklung doch viel länger dauert. Da muss doch etwas Böses dahinterstecken. Außerdem mutiert das Virus ständig. Und so verbreitet sich die Erzählung: die Medien und die Bundesregierung haben sich verschworen, sie wollen mal testen, wie weit man Menschen die Freiheit nehmen kann, bevor sie sich wehren, den Virus gebe es gar nicht oder er sei absichtlich im Labor entstanden.[14]
Alternative Welterklärungsnarrative
Was sind nun genau Verschwörungstheorien? Der Tübinger Amerikanistikprofessor Dr. Michael Butter hält eine präzise Definition für schwierig, er verweist auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Michael Barkun, der sagt, Verschwörungstheorien zeichnen sich durch drei Charakteristika aus: 1. Nichts geschieht durch Zufall, alles wurde geplant – Eine Gruppe von Verschwörer*innen zieht im Hintergrund die Strippen und handelt im Geheimen. 2. Nichts ist so, wie es scheint – Man erkennt erst, was wirklich vor sich geht, wenn man die geheime Gruppe erkennt. Diese Gruppe hat alles geplant. Wenn Probleme auftauchen und Fragen gestellt werden, antworten Verschwörungstheoretiker*innen ähnlich. Sie sagen, dass ein geheimer Plan der Verschwörer*innen dahintersteckt. 3. Alles ist miteinander verbunden – Institutionen und Personen hängen zusammen, von denen man nie gedacht hätte, sie wären miteinander verbunden.[15]
Ähnlich beschreibt es klicksafe: „Mondlandung, die Anschläge auf das World Trade Center oder Corona – Hinter all dem scheint mehr zu stecken. Das jedenfalls ist die Überzeugung von Menschen, die an Verschwörung glauben. Über Soziale Netzwerke, Messenger-Dienste und YouTube erreichen Verschwörungserzählungen heute innerhalb kürzester Zeit sehr viele Menschen. Besonders in Zeiten der Verunsicherung, nach Katastrophen oder Unglücken sind Verschwörungstheorien erfolgreich. Sie bieten Antworten und Eindeutigkeit, suchen nach einfachen Zusammenhängen in einer komplexen Welt. […] Für Verschwörungsgläubige ist von Beginn an klar, dass es immer einen Nutznießer von schrecklichen Ereignissen und Katastrophen geben muss. Ausgehend davon wird nach Belegen gesucht, die diese Annahme stützen. Informationen und Tatsachen werden ausgeblendet, wenn sie nicht die eigenen Annahmen bestätigen. […] Für Verschwörungsgläubige ist es einfacher zu akzeptieren, dass es einen aus dem Hintergrund manipulierenden »Übeltäter« gibt, als anzuerkennen, dass man nicht weiß was vor sich geht oder dass Ereignisse zufällig passieren.“[16]
Was ist zu tun?
Oft wird versucht, den Wahrheitsgehalt von Verschwörungstheorien zu überprüfen und infrage zu stellen: der sogenannte Faktencheck. Ob das von deren Anhänger*innen als Beweis akzeptiert wird, ist aber eher unwahrscheinlich, weil diejenigen die Fakten überprüfen, die Teil des Systems sind, gegen das sich die Verschwörungstheorie richtet. Rationalität und Verschwörungstheorien schließen sich offenbar aus, viele Menschen glauben an mehrere Verschwörungstheorien, die sich gegenseitig widersprechen: „Das ist tatsächlich ein stabiler Befund aus der Psychologie, der das erste Mal 2012 veröffentlicht wurde. Damals wurde gezeigt, dass Menschen, die glauben, dass Prinzessin Diana noch lebt, auch eher glauben, dass sie vom Geheimdienst ermordet wurde. Das zeigt sich für die heutige Krise auch. In Deutschland, den USA, aber auch in Großbritannien gibt es den Glauben an sich logisch ausschließende Verschwörungserzählungen. Das wurde damals als Beleg für Irrationalität gewertet. Mittlerweile ist die Forschung aber an einem anderen Punkt. Inzwischen geht man davon aus, dass diese Menschen glauben: »Es muss anders sein! Ich weiß vielleicht nicht wie anders, aber so, wie ihr es mir erzählt, kann es nicht passiert sein.«“[18]
Dr. Ulrike Klinger schlägt folgende Tipps für die Pädagogik vor:
- „Wer gut informiert sein will, darf sich nicht auf Gratisinhalte verlassen.
- Nichts teilen, was man nicht vorher auch komplett gelesen oder angeschaut hat.
- Popularitätswerte wie Likes oder Shares nicht überbewerten: Sie bedeuten fast gar nichts.
- Kommentare mit Skepsis lesen: Nur sehr wenige, sehr aktive und oft ideologisch geprägte Akteure kommentieren sehr viel.
- Laute Minderheiten: Themen und Meinungen online sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung.
- Daran denken: Soziale Netzwerke sind ziemlich uneditiert (jeder kann alles posten) und voller versteckter Werbung.“[19]
Den meisten Menschen erscheint es sinnlos, mit Anhänger*innen von Verschwörungstheorien über deren Ansichten zu sprechen. Man redet lieber mit Gleichgesinnten, die solche Ideen ablehnen. Hier sollten wir in der gegenseitigen Feindschaft abrüsten, meint der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen: „Das finde ich eine eher erschreckende Schlussfolgerung. Ich würde diese Zusammenhänge genau umgekehrt betrachten, auch wenn mir selbst oft oder viel zu oft die Kraft fehlt, mich der Kommunikation mit radikal Andersdenkenden oder Lauten und Wütenden zuzuwenden. Im Grunde genommen leben wir in einem definierenden Moment der Kommunikationsgeschichte, und die Mehrheit der Gemäßigten – und es ist eine Mehrheit – muss sich sehr viel engagierter zuschalten, für eine Sprache der Abkühlung werben. Ich würde sagen, die Mehrheit der Gemäßigten schweigt noch viel zu laut. Und sich in dieser Situation zurückzuziehen, heißt: der kleinen wütenden pöbelnden Minderheit der Hassenden das Feld zu überlassen – eben dies hielte ich für fatal.“[20]
Fazit
Verschwörungserzählungen sind in sich geschlossene Systeme. Der Versuch, ihre Anhänger*innen rational von deren Unwahrheit zu überzeugen, wird etwa so erfolgreich sein, wie einen Zeugen Jehovas zum Atheismus zu bekehren. In Anhänger*innen solcher Theorien den Feind zu sehen, vertieft jedoch nur den Graben, der zwischen beiden liegt. So schwer es auch fällt: wir sollten Fragen stellen, die eigene Haltung klar, aber nicht dominierend formulieren – und auf jeden Fall im Gespräch bleiben.
1. Luhmann, N.: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 1995, S. 5.
2. Klinger, Dr. U.: Haartrockner gegen Corona? Soziale Medien und die Infodemie, in: tv diskurs 3/2020, S. 38-39, https://mediendiskurs.online/data/hefte/ausgabe/93/klinger-corona-infodemie-tvd93.pdf (zuletzt abgerufen am 29.09.2022).
3. Grimm, J., im Gespräch mit Gottberg, J. v.: Hochgefährlich und ohne verlässliche Strukturen! Mit Verschwörungsnarrativen gegen Werterelativismus und Weltbild-Chaos, in: tv diskurs 4/2020, S. 72-73, https://mediendiskurs.online/data/hefte/ausgabe/94/gottberg-grimm-tvd94.pdf (zuletzt abgerufen am 30.09.2022).
4. Fischer, M.: Das bayesianische Gehirn, in: Neuropsychiater.ch, https://www.neuropsychiater.ch/blog/2021/1/18/das-bayesianische-gehirn (zuletzt abgerufen am 30.09.2022).
5. Fishman, R. B.: Infodemie – Achtsamkeit hilft auch in der Informationsflut, in: Deutschlandfunk Kultur vom 23.08.2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/infodemie-achtsamkeit-hilft-auch-in-der-informationsflut-100.html (zuletzt abgerufen am 30.09.2022).
6. Voltaire: Briefe. An den Prinzen Heinrich von Preußen, am 28. November 1770.
7. Der Spiegel (o. A.): Sekten – Die spektakulärsten Massenselbstmorde, in: DER SPIEGEL (online) vom 19.03.2000, https://www.spiegel.de/panorama/sekten-die-spektakulaersten-massenselbstmorde-a-69598.html (zuletzt abgerufen am 30.09.2022).
8. Steinkuhl, H.: Endzeit-Sekte Zeugen Jehovas – Und die Erde drehte sich weiter, in: DER SPIEGEL (online) vom 30.12.2015, https://www.spiegel.de/geschichte/wie-die-zeugen-jehovas-fuer-1975-den-weltuntergang-voraussagten-a-1069893.html (zuletzt abgerufen am 06.10.2022).
9. Vgl. GeRannyMo - Der Gaming-Psychologe: Kognitive Dissonanz - Was ist das? | Dissonanztheorie von Festinger einfach erklärt | (Mit Spoiler!), https://www.youtube.com/watch?v=_c0fGyD0zYg (zuletzt abgerufen am 06.10.2022).
10. Opp, K.-D.: Kognitive Dissonanz und positive Selbstbewertung, 1964, https://www.researchgate.net/profile/Karl-Dieter-Opp-2/publication/265109654_Kognitive_Dissonanz_und_positive_Selbstbewertung/links/543a50380cf204cab1d9917a/Kognitive-Dissonanz-und-positive-Selbstbewertung.pdf (zuletzt abgerufen am 06.10.2022).
11. Rosling, H. u. a.: Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, New York 2018, S. 18.
12. Ebd., S. 39.
13. Ebd., S. 57.
14. Vgl. Lamberty, P. (1): Experten-Talk mit Pia Lamberty: Verschwörungstheorien & Corona, in: klicksafe vom Mai 2020, abrufbar unter: https://www.klicksafe.de/materialien/experten-talk-mit-pia-lamberty-verschwoerungstheorien-corona (zuletzt abgerufen am 10.10.2022).
15. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung/bpb: Warum gibt es gerade so viele Verschwörungstheorien?, 9. Politikstunde vom 31.03.2020, https://www.bpb.de/mediathek/video/308281/warum-gibt-es-gerade-so-viele-verschwoerungstheorien/ (zuletzt abgerufen am 10.10.2022).
16. klicksafe: Verschwörungstheorien. Definition, Entstehung & Verbreitung, letztmalig aktualisiert am 25.03.2022, https://www.klicksafe.de/verschwoerungstheorien (zuletzt abgerufen am 10.10.2022).
17. ntv (o. A.): Elvis, der unsterbliche King – Diese Verschwörungstheorien kursieren noch immer, vom 16.08.2022, https://www.n-tv.de/leute/Diese-Verschwoerungstheorien-kursieren-noch-immer-article23527484.html (zuletzt abgerufen am 17.10.2022).
18. Lamberty, P. (2): Im Feindbild vereint. Christina Heinen im Gespräch mit Pia Lamberty, in: tv diskurs 3/2020, S. 41, https://mediendiskurs.online/data/hefte/ausgabe/93/heinen-lamberty-tvd93.pdf (zuletzt abgerufen am 10.10.2022).
19. Klinger, Dr. U.: Haartrockner gegen Corona? Soziale Medien und die Infodemie, in: tv diskurs 3/2020, S. 38-39, https://mediendiskurs.online/data/hefte/ausgabe/93/klinger-corona-infodemie-tvd93.pdf (zuletzt abgerufen am 29.09.2022).
20. Pörksen, B., im Gespräch mit Linß, V.: „Die Wahrheit beginnt zu zweit“, in: tv diskurs 3/2020, S. 26-30, https://mediendiskurs.online/data/hefte/ausgabe/93/linss-poerksen-tvd93.pdf (zuletzt abgerufen am 10.10.2022).
Prof. Joachim von Gottberg, geboren 1952, studierte ev. Theologie und Germanistik. Er begann seine berufliche Tätigkeit als Leiter der Landesstelle Jugendschutz in Niedersachsen, anschließend wechselte er als ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden zur FSK nach Wiesbaden. 1994 gründete er die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), deren Geschäftsführer er bis 2018 war. Er unterrichtete seit 1998 Medienwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg und wurde dort 2007 zum Honorarprofessor ernannt. Von 2015–2020 arbeitete er als Vertretungsprofessor an der Universität Halle. In seinen Veröffentlichungen beschäftigte er sich vor allem mit Medienrecht, Medienwirkungsforschung sowie Medienpädagogik.
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