Quelle: Internet?
Digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen der deutschen Bevölkerung im Test
In: tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97)
Während Pandemien, ökonomischen Krisen oder auch Wahlkämpfen zeigt sich besonders deutlich, dass funktionierende Demokratien auf gut informierte Bürger:innen angewiesen sind. Wie gut Menschen in der Lage sind, Nachrichten zu verstehen, einzuordnen und zu hinterfragen, kann Einfluss darauf haben, ob Menschen anfällig für Populismus werden, Vertrauen in Institutionen verlieren oder Falschnachrichten millionenfach verbreiten. Die Nachrichten- und Informationskompetenz der Bevölkerung hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen und ist zu einem kritischen Faktor für Demokratien geworden. Denn durch den radikalen Medienwandel haben Journalist:innen und Medieninstitutionen ihren Einfluss als Gatekeeper:innen verloren. Mediennutzende sind mehr denn je auf sich allein gestellt. Sie müssen für jede einzelne Nachricht jedes Mal aufs Neue selbst darüber entscheiden, ob eine Quelle oder Information für sie vertrauenswürdig ist. Und ob sie sie lesen, liken oder sogar teilen bzw. weiterleiten.
Es ist davon auszugehen, dass sich dieser tiefgreifende Wandel in den kommenden Jahren in Deutschland – wie in vielen anderen europäischen Gesellschaften – weiter verschärfen und zu einer Reihe politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen führen wird. Um darauf reagieren zu können, benötigen Bundes- und Landesregierungen, Bildungs- und Medienpolitik, Schulen- und Bildungseinrichtungen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk zunächst ein genaueres Lagebild. Dabei ist die entscheidende Frage, wie gut Bürger:innen derzeit in der Lage sind, den Wandel unseres Mediensystems zu bewältigen, und wo Menschen unterschiedlicher Altersgruppen Stärken oder Schwächen haben. Wie gut gelingt es der Bevölkerung, abseits der traditionellen Zeitung im Netz die Zuverlässigkeit von Quellen zu beurteilen oder Informationen überhaupt zu erkennen, einzuordnen und zu verifizieren? Wie gut können PR-Inhalte, Desinformationen oder Meinungsbeiträge erkannt und unterschieden werden? Und wie kompetent sind Menschen darin, unvollständige Nachrichten oder Interessenkonflikte bei Quellen und Autor:innen als solche zu identifizieren?
Bisher fehlten verlässliche Daten über diese wichtigen Informations- und Nachrichtenkompetenzen in der deutschen Bevölkerung – und damit die Grundlage für eine gezielte Medienbildungspolitik. Zwar gibt es bereits Studien und Erhebungen zu „Medienkompetenz“, doch entweder nehmen solche Untersuchungen nur Schüler:innen und primär deren allgemeine PC-Kenntnisse in den Blick oder sie beruhen auf Befragungen und Selbstauskünften, die keine verlässliche Kompetenz-Messung darstellen. Aus diesem Grund entwickelten wir gemeinsam mit einer Expert:innen-Gruppe einen Nachrichtenkompetenz-Test, der im Herbst 2020 mit einer repräsentativen Stichprobe für die deutschsprachige Bevölkerung ab 18 Jahren mit Internetzugang in Deutschland durchgeführt wurde. Dafür wurden mittels Onlineinterviews (Computer Assisted Web Interviews – CAWI) bundesweit 4.191 Internetnutzer:innen ab 18 Jahren befragt und getestet.
Der Test geht dabei anhand von Testfragen und ‑aufgaben auf das gesamte Spektrum der digitalen Nachrichtenkompetenz ein, also die Fähigkeit zur Navigation in digitalen Medienumgebungen, die Beurteilung der Qualität von Nachrichten und Inhalten, das Prüfen von Informationen, die Diskursfähigkeit sowie Kenntnisse über die Funktionsweise von digitalen Öffentlichkeiten. Es handelt sich um einen der weltweit ersten Tests zu Informations- und Nachrichtenkompetenz einer gesamten Bevölkerung.
Eine Auswahl der Testergebnisse im Überblick
1) Unterschiede zwischen Desinformation, Information, Werbung und Meinung werden z. T. nur schwer erkannt.
Den Befragten fällt es z. T. schwer, zwischen verschiedenen Kommunikationsabsichten, d. h. zwischen Werbung, Information, Desinformation und Meinung zu unterscheiden. So hielten 56 % der Befragten ein Advertorial – trotz Werbekennzeichnung – fälschlicherweise für eine Information. Nur 23 % haben richtig erkannt, dass es sich um Werbung handelt. Auch eine Falschinformation auf Facebook bereitete den Befragten Probleme: Sie wurde von lediglich 43 % der Befragten erkannt, während 33 % auch hierin fälschlicherweise eine Information sahen. Ebenfalls kritisch ist die Unterscheidung zwischen meinungs- und tatsachenorientierten Beiträgen. Hier wird es vor allem bei journalistischen Beiträgen über politische Entscheidungen schwierig. So hielt ein Drittel der Befragten einen Kommentar für eine tatsachenorientierte Berichterstattung – weitere 15 % waren sich hier nicht sicher.
2) Ob eine Quelle vertrauenswürdig ist, wird oft richtig eingeschätzt. Interessenkonflikte werden seltener erkannt.
Relativ gut waren die Befragten hingegen darin, die Neutralität oder Vertrauenswürdigkeit von Quellen einzuschätzen. Das gelang in verschiedenen Fragen zu mindestens 59 %. Allerdings fällt es – trotz weiterführender Informationen – oft schwer, die konkreten Interessenkonflikte zu benennen. So erkannten 65 % der Befragten, dass der Geschäftsführer eines Flugreisenportals als Autor eines Beitrags zum Thema „Fliegen“ keine neutrale Quelle ist. Doch nur die Hälfte der Befragten konnte auch den konkreten Interessenkonflikt benennen.
3) Kennzeichnungsstrategien von Social-Media-Plattformen zu Desinformationen sind bisher kaum wirksam.
Quer durch die Studie zeigt sich immer wieder, dass plattformspezifische Hinweise z. T. wenig wirksam sind. Ob das Facebook-Label zum Faktencheck einer Falschnachricht oder der Wikipedia-Hinweis auf YouTube zur Finanzierung eines Staatssenders: Maximal ein Viertel der Befragten identifizierte die Markierung als hilfreichen Hinweis bzw. konnte die Information richtig einordnen.
Ähnliche Probleme zeigen sich auch bei Kennzeichnungen auf Nachrichtenseiten. So erkannten nur 7 % der Befragten den Hinweis auf ein Advertorial als Werbekennzeichnung. Und knapp ein Drittel der Befragten identifizierte die Markierung eines Meinungsbeitrags als „Kolumne“ als hilfreichen Hinweis.
4) Menschen zweifeln an der Unabhängigkeit des Journalismus von der Politik.
Der Gedanke, es gäbe gemeinsame Machenschaften zwischen Medien und Politik, ist weitverbreitet: Ein Viertel der Bevölkerung teilt „Lügenpresse“-Vorwürfe. 25 % stimmen der Aussage zu, dass Medien und Politik Hand in Hand arbeiten, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren (weitere 28 % sagen „teils, teils“). 24 % glauben, dass die Bevölkerung in Deutschland von den Medien systematisch belogen wird (weitere 30 % sagen „teils, teils“). Nur die Hälfte der Befragten weiß zudem, dass Nachrichten über einen Bundesminister ohne die Genehmigung des Ministeriums veröffentlicht werden dürfen.
Insbesondere die journalistische Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird falsch eingeschätzt. Nur gut die Hälfte der Befragten konnte korrekt beantworten, dass Bundestagsabgeordnete nicht darüber entscheiden können, worüber der Rundfunk berichtet. Immerhin 22 % glauben hier an eine politische Einflussnahme, weitere 24 % geben hier „ich weiß nicht“ an. 35 % der Befragten denken zudem, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Staatsministerin für Kultur und Medien unterstellt ist (40 % geben hier „ich weiß nicht“ an).
5) Knapp die Hälfte besteht den Test, nur 22 % der Befragten erreichen insgesamt hohe Kompetenzwerte.
Um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu ermöglichen, haben wir für den Test ein Punktesystem entwickelt. Dabei konnten die Befragten maximal 30 Punkte erreichen, wenn sie alle Fragen korrekt beantwortet haben. Erreicht wurden im Durchschnitt 13,3 Punkte und damit weniger als die Hälfte der möglichen Punkte. Dabei liegt ein Drittel der Befragten im Mittelfeld. Nur 22 % erreichen hohe oder sehr hohe Kompetenzwerte und mit 46 % liegen die meisten Befragten im Bereich der (sehr) geringen digitalen Nachrichten- und Informationskompetenz.
6) Jüngere Generationen sind kompetenter als ältere – allerdings abhängig vom Bildungsabschluss.
Mit dem Alter sinkt die digitale Nachrichtenkompetenz: je älter, desto geringer die Kompetenzwerte. Oder umgekehrt: je jünger, desto kompetenter. Neben dem Alter spielt auch Schulbildung eine zentrale Rolle. Betrachtet man beides zusammen, zeigt sich besonders bei den 18- bis 39-Jährigen, wie relevant der Bildungsgrad für die Nachrichtenkompetenz ist: Besonders nachrichtenkompetent sind die hochgebildeten Befragten zwischen 18 und 39 Jahren, während die am wenigsten nachrichtenkompetenten Befragten Menschen unter 40 mit niedriger Schulbildung sind. Generell gilt quer durch alle Altersgruppen: je höher die formale Schulbildung, desto höher die Kompetenzwerte und desto höher auch das Vertrauen in Journalismus und Politik.
7) Digitale Nachrichtenkompetenz hängt auch mit demokratischer Grundhaltung zusammen.
Neben Bildung und Alter steht auch die demokratische Grundhaltung der Befragten in einem Zusammenhang mit digitaler Nachrichten- und Informationskompetenz. Zu dieser demokratischen Grundhaltung zählen wir in unserem Modell die Bereitschaft von Bürger:innen, sich über Politik zu informieren, die Wertschätzung für unabhängigen Journalismus, ein gewisses Grundvertrauen in Demokratie und Medien sowie die Fähigkeit, auch andere Meinungen zu tolerieren. Menschen, die diesen Einstellungen eher ablehnend gegenüberstehen, zeigen auch eine geringere Nachrichten- und Informationskompetenz.
8) Besonders bei AfD-Anhänger:innen ist die digitale Nachrichtenkompetenz niedrig.
Auch die Parteipräferenz korreliert mit der Nachrichtenkompetenz: Die besten Ergebnisse erzielen dabei Menschen, die der FDP nahestehen, dicht gefolgt von den Grünen. Danach folgen Anhänger:innen der Linken und der SPD. Ziemlich genau im Gesamtdurchschnitt liegen die Anhänger:innen der CDU. Abgeschlagen auf dem letzten Platz liegen die Befragten, die der AfD zuneigen. Gerade der große Unterschied zwischen FDP, Grünen und AfD deutet darauf hin, dass an dieser Stelle nicht (nur) die Parteipräferenz entscheidend sein dürfte, sondern Bildung, Alter und/oder grundsätzliche Einstellungen, etwa zu einer vermeintlichen Klüngelei zwischen Medien und Politik, einen Einfluss auf die Nachrichtenkompetenz haben.
Zusammenfassung
Die Gesamtauswertung der Daten zeigt: Internetnutzer:innen verfügen bereits über einige Grundkenntnisse, um nachrichtenkompetent durch ein für viele Menschen vergleichsweise neues Medienumfeld zu navigieren. So konnte beispielsweise mehr als die Hälfte der Befragten erkennen, wenn eine Quelle nicht neutral oder nicht vertrauenswürdig ist. Und den meisten war klar, dass man ein unbekanntes Video nicht ungesehen weiterleiten sollte. Überhaupt zeigten die Testteilnehmer:innen ein großes Interesse daran, akkurate Informationen zu teilen bzw. Falschnachrichten nicht selbst zu verbreiten.
Doch all das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Befragten insgesamt in fast allen Kompetenzbereichen überwiegend mittelmäßig bis schlecht abgeschnitten haben und es oft an ganz konkreten Kenntnissen und Fähigkeiten fehlt. Insofern sind die Ergebnisse dieser Erhebung auch kritisch, weil sie zeigen, dass Bürger:innen viel zu lange damit alleingelassen wurden, sich in immer komplexeren Medienumgebungen selbst zurechtzufinden.
Es braucht bessere digitale Schul- und Erwachsenenbildung.
Die systematische Vernachlässigung digitaler Fähigkeiten zeigt sich insbesondere in der Bildungspolitik – hier gibt es dringenden Nachholbedarf in der Schul- ebenso wie in der Erwachsenenbildung. Nach wie vor sind digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen nicht systematischer Bestandteil der Lehrpläne. Gerade in den Haupt- und Mittelschulen wurden Dimensionen von Medienkompetenz, die mit politischer Bildung und Vertrauensbildung in journalistisches Arbeiten zusammenhängen, in den vergangenen Jahrzehnten offenbar weitgehend vernachlässigt. Dies ist besonders gefährlich, da junge Menschen mit niedriger Schulbildung nach den vorliegenden Daten die soziodemografische Gruppe bilden, die die niedrigsten Kompetenzwerte aufweist und zugleich auch ein besonders geringes Vertrauen in Politik und Medien zeigt. Hier können wir noch gar nicht absehen, welche weiteren gesellschaftlichen Konfliktlagen diese Polarisierung nach sich ziehen kann.
Doch auch bei Erwachsenen und älteren Menschen ist der Bildungsbedarf hoch. Im durchgeführten Test sank die digitale Nachrichtenkompetenz im Schnitt mit dem Alter – und zwar deutlich und signifikant. Aus diesem Grund ist es dringend notwendig, digitale Nachrichten- und Informationskompetenz systematischer in der Erwachsenenbildung mitzudenken und beispielsweise in berufliche Weiterbildungsangebote aufzunehmen.
Es braucht transparente journalistische Angebote.
Insgesamt weisen die schlechten Testergebnisse aber nicht nur auf ein Bildungsproblem hin. Es wird genauso deutlich, dass es für Bürger:innen schwieriger geworden ist, verlässliche Nachrichten zu erkennen und von anderen Formen der Kommunikation zu unterscheiden. Dies liegt zunächst an den Medienangeboten selbst. Unsere Ergebnisse machen nicht nur deutlich, wie wichtig es ist, Leser:innen die Grundsätze des journalistischen Handwerks verständlich und transparent zu vermitteln. Es zeigt sich auch, dass journalistische Angebote Menschen, die diese nutzen, bei der Einordnung verschiedener Kommunikationsformen wesentlich besser unterstützen müssen. Zwar ist beispielsweise die Trennung von Kommentar und Berichterstattung ebenso im Medienstaatsvertrag (MStV) geregelt wie die Kennzeichnung von Werbung. Doch scheinen die entsprechenden Markierungen auf Nachrichtenseiten entweder nicht gut erkennbar oder nicht verständlich zu sein. Hier besteht Verbesserungsbedarf. Denn gerade für diejenigen, denen eine Einordnung von Nachrichtenartikeln schwerer fällt, entsteht auch schnell der Eindruck eines finanziell abhängigen und/oder politisch und meinungsgetriebenen Journalismus. Die Folge kann sinkendes Medienvertrauen sein.
Es braucht bessere Plattform-Architekturen.
Das Gleiche gilt für Social-Media-Plattformen, die ebenfalls Bürger:innen einen verantwortungsvollen Umgang mit Nachrichten und Informationen erschweren. In den sozialen Netzwerken erreichen Nutzer:innen Informationsbruchstücke noch unsortierter und die kompetente Navigation wird umso schwieriger. Zwar ist der aktuelle Trend, problematische Beiträge zu markieren, mit zusätzlichen Informationen zu versehen oder sogar Accounts und Inhalte gänzlich zu sperren, begrüßenswert. Aber er ändert nichts an der grundlegenden Funktionslogik der Plattformen, die Desinformation eher begünstigt als eingrenzt. Hinzu kommt, dass die Befragten offensichtlich Probleme hatten, zusätzliche Informationen richtig zu erkennen und einzuordnen. Ohne plausible und gut sichtbare Kennzeichnungen, Transparenz über die Plattform-Architektur und Design-Entscheidungen, die eine kompetente Nutzung wirklich unterstützen, sind auch Faktencheck-Labels allein nicht zielführend.
Dr. Anna-Katharina Meßmer leitet als Soziologin das Projekt zu digitaler Nachrichten- und Informationskompetenz bei der Stiftung Neue Verantwortung (SNV). Die Soziologin ist Mitinitiatorin von #aufschrei, dem ersten Hashtag, der 2013 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.