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Das Leben ist Stress: Jugendliche und Reality-TV

Dr. habil. Gerd Hallenberger

Medienradar, 07/2021

Mindestens ebenso wichtig wie die Frage „Was machen die Medien mit den Menschen?“ ist heute die Frage „Was machen die Menschen mit den Medien?“. Medien- und Kommunikationswissenschaften sind sich einig, dass Medienwirkung nicht nach einem einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip geschieht, sondern Mediennutzende im Mediengebrauch aktiv werden, ihre Interessen, ihre momentane Befindlichkeit und ihre Medienkompetenz einbringen. Sie nutzen Medienangebote wie etwa Reality-TV, um etwas zu erleben, das ihnen gefällt, das sie bewegt und das ihnen etwas bringt.

Ist ein Medienangebot erfolgreich, dann können Mediennutzende offenbar etwas damit anfangen. Die Frage zu stellen, was das genau ist, fällt manchmal schwer: Wenn sich die Gesellschaft weitgehend einig ist, dass es sich um völligen Trash handelt, dann verbietet sich die Frage doch geradezu, oder? Nein: Ob ein Medienangebot – nach welchen Kriterien auch immer – als qualitativ schlecht eingeschätzt wird, sagt nichts über seine Nutzung aus.

Reality-TV ist ein solcher Fall, und er betrifft in erheblichem Maße Jugendliche. Diesen Begriff zu definieren, ist nicht leicht, weil sich seine Bedeutung im Laufe der Zeit erweitert hat und immer noch verändert. Ursprünglich, um 1990, verstand man darunter vor allem nachgespielte Polizei- und Rettungsaktionen, heute sehr viel mehr. Gemeinsamer Nenner ist: Reality-TV inszeniert reale Situationen nach Spielregeln des Unterhaltungsfernsehens – entweder durch das Vorspielen konkreter Situationen (wie in Scripted Reality, Realitysoaps oder Dokusoaps), die sich so ereignet haben könnten, auch wenn sie tatsächlich erfunden sind, oder durch die Präsentation von Situationen mit Entscheidungszwang, aber offenem Ausgang – Wer wird erwählt? Wer gewinnt?

Wo die Wissenschaft Definitionsprobleme sieht, hat es das Publikum leichter. Es reicht, wenn ungefähr klar ist, was gemeint ist. Jugendliche können mit Reality-TV offenbar sehr viel anfangen, denn eine ganze Reihe einschlägiger Produktionen gehört zu ihren Lieblingssendungen. Immer wieder genannt werden vor allem Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar oder Germany’s Next Topmodel, aber auch Datingshows wie Der Bachelor und Promi-Wettbewerbe wie Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! (besser bekannt als Dschungelcamp) oder Das Sommerhaus der Stars und Realitysoaps wie Berlin – Tag & Nacht.


„Was ich gern schaue, ist Familie im Brennpunkt und Mitten im Leben. Man schaut es, weil es einfach so dumm ist und es amüsiert einen deswegen. Es ist so schlecht geschauspielert und diese Schicksale sind so abwegig.“

Mattis, 17 Jahre


Großes Fernsehen ist das alles nicht, aber es kann für Jugendliche äußerst nützliches Fernsehen sein. All diesen Realityformaten ist gemein, dass in ihnen Menschen – manchmal etwas bekanntere, manchmal dem Publikum völlig unbekannte – in Situationen versetzt werden, in denen sie sich verhalten oder etwas leisten müssen, oft sogar beides, wenn einerseits Prüfungen bewältigt werden müssen, dies anderseits unter ständiger Kamerabeobachtung geschieht. Die Ausgangssituation erinnert an ein Experiment – es gelten zwar die Regeln der Realität, die Situation ist jedoch künstlich herbeigeführt. Der Fokus liegt immer auf den beteiligten Personen: Wer kann was? Wer verhält sich wie? Wer gewinnt? Mediales Ergebnis ist oft eine eigenartige Zwischenwelt: Menschen tun so, als seien sie die, die sie da vorspielen, was aber vom Fernsehpublikum kaum beurteilt werden kann – außer jemand fällt ganz offensichtlich aus der selbst gewählten Rolle. Gleichzeitig tun Menschen so, als sei ihnen das wahnsinnig wichtig, was sie da gerade in einem und für ein Fernsehformat tun. Und auch in diesem Fall hat das Fernsehpublikum allenfalls Anhaltspunkte, was die tatsächliche Ernsthaftigkeit der Bemühungen betrifft. Ein in den letzten Jahren auch im Jugendmedienschutz heftig diskutierter Sonderfall ist das Phänomen „Scripted Reality“. Was auf den ersten Blick aussieht wie Sozialdokus (z. B. Familien im Brennpunkt oder Hilf mir! Jung, pleite, verzweifelt ...) ist tatsächlich eine Mischung aus Erfundenem und Gefundenem, aus fiktionalen und dokumentarischen Elementen: Alltagsgeschichten, die sich zwar nicht so ereignet haben, sich aber ereignet haben könnten, werden von Laien aufgeführt, die zwar kein ausformuliertes Drehbuch bekommen, aber eine Skizzierung ihrer Figur und der zu spielenden Situation. Scripted Reality ist gelenktes Improvisationstheater. Entscheidend ist nicht, ob das Dargestellte wirklich passiert ist, sondern ob es glaubwürdig erscheint.

Es gibt gute Gründe, warum viele Jugendliche mit Realityformaten etwas anfangen können. Auf dem Weg von der Kindheit ins Erwachsenenleben wollen vor allem bestimmte Schlüsselfragen beantwortet werden, nicht zuletzt: Wer bin ich eigentlich? Wer will ich werden? Wo will ich hin? Wo sind meine Grenzen? Was geht und was geht nicht? Es ist eine Zeit des Suchens und Ausprobierens, und Reality-TV bietet eine mediale Zwischenwelt, in der beobachtet werden kann, ohne dass eine zu große Nähe zur eigenen Lebenswelt Angst auslösen könnte. Stattdessen wird eine quietschbunte Laborwelt gezeigt, in der mit anderen Leuten Experimente durchgeführt werden, bei denen ich Beziehungen zu meiner Welt entdecken kann, wenn ich will, aber ich muss es nicht: Es geht ja nur um Reality, nicht um die Realität. Wenn ich mich entscheide, mich darauf einzulassen, kann ich Themen, Aspekte und Punkte finden, die mich über mich selbst nachdenken lassen, ohne dass es wirklich ernst wird und ich meinen Unterhaltungsmodus verlassen muss. Es ist Spielmaterial, im besten Sinne – denn wer spielt, entdeckt die Welt und probiert sich aus.


„Ich schaue sowas wie Sommerhaus der Stars oder Kardashians. Beim Sommerhaus der Stars macht es mir Spaß, die Streitigkeiten von den Leuten anzuschauen. Keep Up with the Kardashians schaue ich vor allem, um das Leben als eine reiche Person sehen zu können.“

Mila, 18 Jahre


Falls sich Akteure dabei geradezu präpubertär verhalten wie regelmäßig bei Promi-Wettbewerben, bringt das zwar keine Punkte hinsichtlich der Sendungsqualität, es fördert aber die Nützlichkeit für Jugendliche: Beim Übergang in die Welt der Erwachsenen muss ich mich ja gar nicht groß verändern, ich kann auch so bleiben wie ich bin. Andere Realityformate schaffen die notwendige Augenhöhe durch die Besetzung der Schlüsselrollen mit ebenfalls jugendlichen oder jugendlich anmutenden Personen, von Realitysoaps bis zu Castingshows.

Wie gesagt: Viele Jugendliche können mit Reality-TV etwas für sie Sinnvolles anfangen – andere Jugendliche nicht. Eine nicht kleine Gruppe lehnt Derartiges radikal ab, weil sich dort nur Idioten öffentlich zu Idioten machen.


„Was ich nicht gucke, sind Sachen wie das Dschungelcamp, wo die Leute wirklich komplett ihre Würde verlieren. Wo das ganze Konzert der Show ist, dass sich Leute komplett zum Affen machen. Ich habe keine Lust, 50-jährige Deutsche anzugucken, die Maden essen.“

Susa, 16 Jahre


Ein dritte Gruppe verwendet schlicht anderes Fernsehen oder andere Medienangebote für die gleichen Ziele: Wer bin ich eigentlich? Wer will ich werden? Diese Themen ziehen sich beispielsweise geradezu wie ein roter Faden auch durch die Film- und Literaturgeschichte.

Wenn Jugendliche Reality-TV als attraktiv empfinden, spielen die dort be- und verhandelten Themen eine zentrale Rolle – und es ist kein Zufall, dass es sich dabei oft um die Wahl von Beruf und Partnerschaft handelt. Was will ich einmal werden? Model und Popstar stehen bei vielen Jugendlichen auf der Liste der Traumberufe weit oben und sind folglich wichtigster Gegenstand von Castingshows. Vermutlich glaubt zwar nur eine kleine Minderheit des jugendlichen Publikums an eine ernsthafte Chance auf eine Karriere in diesen Branchen, aber alle anderen beschäftigen sich mithilfe solcher Shows immerhin indirekt mit allgemeinen Fragen von Bewerbungen und Auswahlprozessen auf dem Arbeitsmarkt. Mit wem will ich zusammenkommen und eine Beziehung eingehen? Um dieses Kernthema des Erwachsenwerdens kümmern sich Datingshows – auch in diesem Fall gilt, dass die vorgeführten Auswahlprozesse in jeder Hinsicht ausgesprochen realitätsfern sind, aber gerade deshalb geeignetes Spielmaterial für allgemeines, zwangloses Nachdenken.


„Was ich gucke, ist GNTM und auch Bachelor und Bachelorette und auch Love Island und solche Sachen – ich glaub einfach alles, was ein bisschen mit so große Liebe suchen und so weiter zu tun hat. Also eher so positivere Dinge, sag ich mal. Vor allem wegen Corona war das so´n Fluchtpunkt irgendwie, um aus der eigenen Realität rauszukommen. Einfach was Positives, bei dem man sich nicht mit dem eigenem Leben beschäftigen muss.“

Rosanna, 17 Jahre


Ein weiterer wichtiger Punkt: Bei Reality-TV geht es um Entscheidungen, sei es um informelle wie in Realitysoaps oder formalisierte wie bei Castingshows oder Promi-Wettbewerben. Jugendliche haben nicht nur ohnehin permanent mit informellen Entscheidungen zu tun, auch formalisierte sind in ihrer Lebenswelt von herausragender Bedeutung: Es gilt fortwährend Prüfungen zu bestehen, sei es in der Schule, bei Einstellungstests oder der von vielen Generationen aller Bildungsstufen geteilten Erfahrung der Führerscheinprüfung. Ob Castingauswahl oder Dschungelprüfung, Reality-TV bietet Jugendlichen hier reichlich Anschluss an eigene Erfahrungen, aber mit einigen wichtigen Vorteilen: Erstens betrifft es andere, weshalb zweitens hemmungslos Sympathien und Antipathien parasozial ausgelebt werden können, und drittens lässt sich aus dem Verhalten anderer in Prüfungssituationen immer etwas zur Einschätzung des eigenen Verhaltens in Stresssituationen lernen.

Reality-TV präsentiert eine mediale Zwischenwelt, die für Jugendliche aus verschiedenen Gründen attraktiv sein kann, nicht zuletzt deshalb, weil sie zwar zur realen Lebenswelt Jugendlicher Verbindungen aufweist, aber trotzdem klar von ihr getrennt ist. Manchmal kann das Leben jedoch auf unerwartete Weise zurückschlagen: Die Castingshow ist mittlerweile im wirklichen Leben angekommen, seit eine bekannte Supermarktkette die Aktion „Deutschland sucht den Super-Azubi“ ins Leben rief, um Nachwuchs fürs eigene Unternehmen zu finden.
 

Autor

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler mit dem Arbeitsschwerpunkt der Fernsehunterhaltung sowie der Entwicklung von Medien- und Populärkultur. Seit 2000 ist er außerdem Mitglied von Nominierungskommissionen oder Jurys für den Grimme-Preis.

[Bild: Sandra Hermannsen]