Zahlen / Fakten

Sexualisierte Gewalt in True-Crime-Formaten

Dr. Christine Linke

Medienradar / Hochschule Wismar

True-Crime-Formate faszinieren Millionen von Zuschauer*innen und Hörer*innen – sie versprechen Nervenkitzel, reale Kriminalfälle und einen tiefen Einblick in die Abgründe der menschlichen Psyche. Doch während Täter und Ermittlungen oft im Mittelpunkt stehen, bleibt die Darstellung der Opfer – insbesondere von sexualisierter Gewalt – oft im Hintergrund.
Der Beitrag untersucht anhand einer Studie der Hochschule Wismar, wie True Crime geschlechtsspezifische Gewalt darstellt, welche Probleme bei der Berichterstattung auftreten und welche Auswirkungen dies auf das gesellschaftliche Bewusstsein hat. Die Ergebnisse zeigen, dass Gewalt häufig nicht nur schockierend detailliert dargestellt wird, sondern auch oft ohne Kontext und Hilfsangebote bleibt. Welche Kriterien sollten erfüllt sein, damit True-Crime-Formate sensibler und verantwortungsvoller mit dem Thema sexualisierte Gewalt umgehen?

True-Crime-Formate sind beliebt und erfolgreich. Es gibt viele Angebote im Fernsehen, auf Streaming-Plattformen, Videokanälen und sogar als Podcasts. Bei True-Crime-Inhalten geht es um echte Verbrechen wie Mord, Entführung oder Betrug. Sie konzentrieren sich darauf, was bei den Verbrechen passiert ist und wer daran beteiligt oder davon betroffen war.

True Crime ist ein Hybrid-Genre zwischen Information und Unterhaltung. Verbrechen werden in einer Mischung aus echten Geschichten und nachgestellten Szenen rekonstruiert. Die echten Aufnahmen von Tatorten oder Expert*innen wirken auf Zuschauende oft sehr glaubwürdig. Gleichzeitig gibt es nachgespielte Szenen, die die Inhalte spannend und unterhaltsamer gestalten. 

Trotz der großen Beliebtheit gibt es auch negative Aspekte von True Crime. Kritiker*innen bemängeln, dass zu viel Wert auf Gewalt und Inszenierung gelegt wird und das Leid der Opfer zur Unterhaltung dient. Viele Produktionen zeigen Gewalt, besonders sexualisierte Gewaltverbrechen, auf dramatische oder sogar erotische Weise. Dadurch geraten die wahren Ursachen von Verbrechen in den Hintergrund. Außerdem können solche Darstellungen schädliche Vorurteile verstärken und Gewalt verharmlosen oder als „normal“ darstellen – zum Beispiel geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen.

Im Folgenden werden die Ergebnisse einer Studie der Hochschule Wismar zu geschlechtsspezifischer Gewalt in True-Crime-Formaten vorgestellt. Die Untersuchung analysierte das Programmangebot der acht wichtigsten deutschen Fernsehsender während zweier „künstlicher Wochen“ im Jahr 2020. Dabei lag der Fokus auf der Pre-Primetime und Primetime – dem Hauptsendezeitraum zwischen 18 und 22 Uhr. In die umfassende Analyse flossen insgesamt 545 Sendungen ein, wobei in etwa einem Drittel der Sendungen geschlechtsspezifische Gewalthandlungen gezeigt wurden.
 

  • alle sichtbaren, hörbaren und szenisch dargestellten Handlungen, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden führen/führen können, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richten (= geschlechtsspezifische Gewalt)

  • einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung

  • einschließlich „häuslicher Gewalt“ – alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partner*innen vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter/die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat/hatte; davon sind weltweit überproportional Frauen und Kinder betroffen

  • einschließlich Gewalt in erweiterten Beziehungskonstellationen (z.B. ausgehend von Expartner*in gegenüber neuen/neuer Partner*in)

  • Geschlechtsspezifische Ästhetisierung und Hypersexualisierung von Körpern

  • alle Kontexte (z.B. sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben)

Tatbestände Gewalthandlung

Art der Beziehung

Betroffenen-/Opferperspektive

  • Nur in wenigen Fällen (n=22 von 290 Gewalthandlungen; 8%) wird eine differenzierte Perspektive von Betroffenen und Opfern deutlich.

  • Im gesamten Sample erfolgt kein Vorabhinweis auf die teils expliziten Darstellungen schwerer Gewalt (sogenannte Triggerwarnungen).

  • Aktivist*innen und Professionelle der Anti-Gewaltarbeit werden im Sample kaum sichtbar.

  • Ebenfalls finden sich kaum Hinweise zu Beratungsstellen, Hilfsangeboten oder ähnlichem.

  • Es erfolgt kaum Adressierung der strukturellen Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt.

  • Dramatisierung und Sensationalisierung: True-Crime-Formate stellen Täter und Ermittlungen oft spannungsgeladen dar, was das Verbrechen unnötig aufregend wirken lässt. Dadurch besteht die Gefahr, dass Täter glorifiziert oder als faszinierende Persönlichkeiten dargestellt werden.

  • Verharmlosung der Opferperspektive: Die Erfahrungen der Opfer und ihrer Angehörigen werden oft nicht ausreichend berücksichtigt oder als nebensächlich behandelt. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass ihre Erlebnisse nicht so schwerwiegend sind.

  • Problematische Verbindung von Sexualität und Gewalt: Gewalt wird in manchen Formaten auf eine Weise inszeniert, die mit Erotik vermischt wird. Das kann dazu führen, dass sexualisierte Gewalt als ästhetisch oder „reizvoll“ wahrgenommen wird.

  • Mangel an Aufklärung und Prävention: Viele dieser Formate geben keine Hinweise darauf, wo Opfer oder Angehörige Hilfe finden können oder wie man Gewalt vorbeugen kann. Täterperspektiven stehen oft im Vordergrund, ohne dass Konsequenzen oder Präventionsmaßnahmen thematisiert werden.

Die Ergebnisse der Studie machen klar: Es ist nicht nur wichtig, das Thema geschlechtsspezifische Gewalt in den Medien genauer zu betrachten. Auch die Berichterstattung darüber sollte differenzierter sein, also das Thema vielschichtig und aufklärend darstellen – nicht zuletzt, um die Öffentlichkeit besser für das Thema zu sensibilisieren.

Dabei gibt es drei zentrale Problembereiche, die besonders kritisch zu betrachten sind:

Fokus auf Täter statt auf Opfer

In vielen True-Crime-Formaten stehen die Täter und die Details ihrer Verbrechen im Mittelpunkt. Dadurch geraten die Erfahrungen und das Leid der Opfer in den Hintergrund. Diese Perspektive kann dazu führen, dass die Opfer marginalisiert, also als weniger relevant erachtet oder sogar übersehen, werden. Es ist wichtig, die Geschichten der Opfer in den Fokus zu rücken, ihre Erfahrungen sichtbar zu machen und ihnen Handlungsmacht zu geben, um ein besseres Verständnis für die Auswirkungen geschlechtsspezifischer Gewalt zu schaffen (Linke & Kasdorf, 2023).

Mangel an Prävention und praktischen Hilfsangeboten

True-Crime-Formate erwähnen kaum Prävention, Unterstützung oder Beratungsmöglichkeiten für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt. Diese Lücke stellt eine verpasste Chance dar, da Zuschauer*innen, die in ähnlichen Situationen sind oder Betroffene kennen, praktische Hilfe benötigen könnten. Das Bereitstellen solcher Informationen könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein zu schaffen und echte Unterstützung zu bieten (Linke & Kasdorf, 2023).

Darstellung von Partnerschaftsgewalt und Sensationalisierung

True-Crime-Formate können dazu beitragen, die Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt sichtbar zu machen und die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Oft konzentrieren sie sich jedoch nur auf die Gewalttat selbst, ohne die Muster der Gewalt und ihre Entstehung in Beziehungen zu beleuchten. Häufig werden nachgestellte Szenen, Tatortaufnahmen oder Interviews verwendet, die den Schrecken der Tat betonen. Dies kann zu einer sensationellen Darstellung führen, die Gewalt trivialisiert oder sogar glorifiziert. Zudem können stereotype und einseitige Darstellungen die strukturellen Ursachen von geschlechtsspezifischer Gewalt verstärken.

Fazit

True-Crime-Formate müssen mit Sorgfalt und Verantwortung gestaltet werden, um das wahre Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt widerzuspiegeln. Fundiert recherchierte Inhalte, die diverse Perspektiven einbeziehen, können dazu beitragen, die Öffentlichkeit aufzuklären, Vorurteile abzubauen, Betroffene zu entstigmatisieren und einen Beitrag zur Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt zu leisten.
 

1. Qualitative Medieninhaltsanalyse

Teil 1a: Anwendung des Kategoriensystem in einem kombiniert deduktiv-induktiven Prozess; offener Erfassung der geschlechtsspezifischen Gewaltdarstellung (Mayring 2000)

Teil 1b: Kontextualisierende Codierung hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Gewaltdarstellung (Böhm1994)

Teil 2: Feinanalytische Schritte mit Fokus auf das audiovisuelle Medium (Mikos 2008)

2. Insights von Praktiker*innen (in Kooperation mit der MaLisa Stiftung)

Durchführung zweier virtueller Workshops mit Aktivist*innen der Anti-Gewalt-Arbeit und Medienschaffenden aus den Bereichen Fiktion, Unterhaltung und Information.

Autorin

Dr. phil. habil. Christine Linke ist Professorin für Kommunikationswissenschaft am Studiengang „Kommunikationsdesign und Medien“ der Fakultät Gestaltung an der Hochschule Wismar. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Medienalltag, Digitalisierung und der Wandel sozialer Kommunikation sowie audiovisuelle Medien.

[Bild: Tom Wagner]