Filmheft: Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Pädagogisches Material für die schulische und außerschulische Bildung
CC BY-SA 4.0 / Herausgeber: Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, 01/2025
Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 2025 haben der polnische Sender TVP, ntv/RTL und das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau in einem internationalen Gemeinschaftsprojekt einen Dokumentarfilm produziert. In Auschwitz – Countdown zur Befreiung (abrufbar ab 28.01.2025) wird der Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau als größtes deutsches Konzentrations- und Vernichtungslager als Ausgangspunkt genommen, um einen großen historischen und erzählerischen Bogen zu spannen. Während die letzten Monate vor der Befreiung von Auschwitz im Mittelpunkt stehen, deckt der Dokumentarfilm gleichzeitig die Geschichte des Holocaust, die Entwicklung des Nationalsozialismus und Antisemitismus im Dritten Reich sowie in Grundzügen auch die Nachkriegszeit und -justiz ab.
Medienradar unterstützt das Projekt und bietet mit diesem Filmheft eine medienpädagogische Begleitung für Lehrende an.

[Titelbild des Filmhefts: Medienradar / Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen e.V.]
Überblick zum Film
Genre: Dokumentarfilm
Altersfreigabe: ab 12
Klassenstufe: geeignet ab Klassenstufe 9
Fächer: Geschichte, Deutsch, Ethik, Religion, Politik, Psychologie
Themen: Holocaust, Holocaustüberlebende, Shoah, Auschwitz, Konzentrationslager, Nationalsozialismus, Gedenkstätten, Antisemitismus, Zweiter Weltkrieg, Erinnerungskultur, Nachkriegsjustiz, NS-Täter*innen, historische Quellen
Regie: Max Serio
Produktion: Picasso Film, Telewizja Polska (Koproduktion), Inbornmedia (Koproduktion), SD Cinematografica (Koproduktion) in Zusammenarbeit mit RTL Deutschland und ntv Nachrichtenfernsehen
Erstausstrahlung: 27.01.2025 (Deutschland)
Der Film ist unter folgendem Link ab dem 28.01.2025 abrufbar:
https://plus.rtl.de/video-tv/filme/auschwitz-countdown-zur-befreiung-992515
[Video: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Testimonial Spot zum Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung, 2025
Samuel Modiano - Holocaust Survivor
[Video: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Testimonial Spot zum Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung, 2025
Stefania Wernik - Auschwitz Survivor
Information
1. Inhalt & UmsetzungZum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 2025 haben der polnische Sender TVP, ntv/RTL und das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau in einem internationalen Gemeinschaftsprojekt einen Dokumentarfilm produziert. Darüber hinaus unterstützen die Selbstkontrollen FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen) und FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter) das Projekt und bieten eine medienpädagogische Begleitung für Lehrende an. In Auschwitz – Countdown zur Befreiung wird der Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau als größtes deutsches Konzentrations- und Vernichtungslager als Ausgangspunkt genommen, um einen großen historischen und erzählerischen Bogen zu spannen. Während die letzten Monate vor der Befreiung von Auschwitz im Mittelpunkt stehen, deckt der Dokumentarfilm gleichzeitig die Geschichte des Holocaust, die Entwicklung des Nationalsozialismus und Antisemitismus im Dritten Reich sowie in Grundzügen auch die Nachkriegszeit und -justiz ab.
Der Weg zur Befreiung wird anhand ausgewählter Wende- und Eskalationspunkte in der Geschichte von Auschwitz und des Holocaust erzählt. Der Dokumentarfilm setzt dabei einen Fokus auf Zeitzeug*inneninterviews mit Personen, die als Kinder und Jugendliche in Auschwitz inhaftiert waren. Historisches Film- und Fotomaterial wird ergänzt durch dramatisierende Elemente wie Animationen und Reenactment-Szenen sowie Interviews mit Historiker*innen. Dabei wird eine Vielzahl an Perspektiven abgebildet: An erster Stelle kommen Überlebende zu Wort – aber auch Täter*innen, Befreier und Anwohner*innen.
Bemerkenswert ist der Einsatz von KI-gestützt nachkolorierten Aufnahmen, die auch bekanntes Archivmaterial in neues Licht rücken.
Information
2. Pädagogische AnknüpfungspunkteDer 27. Januar als Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz steht heute symbolisch als Gedenktag für den Holocaust – dabei war für die meisten Opfer des nationalsozialistischen Regimes der Leidensweg noch lange nicht – oder nie – vorbei. Trotzdem markiert der Tag einen Wendepunkt – auch in der öffentlichen Wahrnehmung der nationalsozialistischen Verbrechen. Dies nicht zuletzt dank der Filmaufnahmen, die die Befreier als Beweis- und Dokumentationsmaterial aufnahmen. Die „Ikonizität“ von Auschwitz macht die pädagogische Auseinandersetzung gerade im filmischen Kontext interessant: Wir alle haben wohl sofort Bilder im Kopf, wenn wir das Wort „Holocaust“ hören – und viele davon stammen aus Auschwitz. Diese einzuordnen, zu hinterfragen, zu erweitern und zu kontextualisieren ist wichtig – gerade auch in Bezug auf eventuell klischeehafte oder emotionalisierende Darstellungen in Film und Fernsehen. Wie Geschichte dort „erzählt“ wird, lässt sich anhand des Dokumentarfilms Auschwitz – Countdown zur Befreiung gut analysieren und besprechen, vor allem im Hinblick auf die verschiedenen eingesetzten Elemente und Stilmittel. Anknüpfend daran ist der Umgang mit dem historischen Material geeignet für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Quellenkritik und -interpretation als essenziellen Pfeilern von Medienkompetenz.
Abgesehen von film- und medienpädagogischen Aspekten bietet der Dokumentarfilm eine Übersicht über eine Vielzahl an historischen Ereignissen, die ebenfalls herausgegriffen und vertieft betrachtet werden können. So lassen sich Wissen und Reflexionsfähigkeit zu Nationalsozialismus und Holocaust erweitern, indem auch über den „Horizont“ des Films hinausgeblickt wird und verschiedene Themen als Ausgangspunkt für eigene Recherchen genutzt werden.
Hinweis:
Die unterschiedslose Nebeneinanderstellung von Täter- und Opferperspektiven im Film muss generell bei allen Aufgaben und Diskussionen unbedingt kritisch reflektiert werden. Dies betrifft sowohl die Zeitzeug*inneninterviews wie auch die verwendeten Quellen (s. auch Aufgabe 2). Ehemalige SS-Täter und Opfer leiden nicht einfach „beide gleichermaßen“ unter den Ereignissen. Diese Unterschiede, besonders auch im Kontext Erinnerungskultur und deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit, müssen deutlich herausgestellt werden. Dafür eignen sich z. B. die Aufgaben 4 und 5 in der Gegenüberstellung.
Begriffseinordnung:
„Shoah“ (hebräisch: Katastrophe) ist die Bezeichnung jüdischer Menschen für die nationalsozialistische Massenvernichtung von Juden*Jüdinnen während des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff „Holocaust“ (griechisch: Brandopfer) hat sich in den 1980er-Jahren etabliert und wird wegen der Assoziation mit religiösen Opferriten teilweise kritisiert. Da er allgemein bekannt und verständlich ist und auch andere Opfergruppen einschließt (wie beispielsweise Sinti*zze und Rom*nja), werden in diesem Filmheft beide Begriffe je nach Kontext verwendet.
Der rassistische Begriff für Sinti*zze und Rom*nja wird an einer Stelle in Aufgabe 3 als historische Bezeichnung verwendet, da er so auch im Film vorkommt. Dies ist markiert durch doppelte Anführungszeichen des Wortes. Im weiteren Text wird auf eine Reproduktion verzichtet.
Information
3. Historischer KontextDas Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Der Lagerkomplex Auschwitz bestand von Mai 1940 bis Januar 1945 und setzte sich u. a. aus dem Stammlager KZ Auschwitz I, dem Vernichtungslager KZ Auschwitz II (Birkenau) und dem Zwangsarbeitslager KZ Auschwitz III (Monowitz) zusammen, sowie mehreren Nebenlagern und Zwangsarbeitsstätten. Das größte deutsche KZ befand sich bei der polnischen Kleinstadt Oświęcim. Auschwitz I war eine ehemalige polnische Kaserne, die ab 1940 gezielt zum Konzentrations- und Zwangsarbeitslager ausgebaut wurde, zunächst vor allem für polnische Intellektuelle, Oppositionelle und sowjetische Kriegsgefangene. Das Stammlager verfügte über eine Gaskammer, die bis Mai 1942 betrieben wurde. Danach wurden alle Massentötungen in den sechs Gaskammern des Anfang 1942 errichteten KZ Auschwitz II (Birkenau) durchgeführt, das explizit mit dem Ziel der „Endlösung der Judenfrage“ geplant wurde. Deportationszüge aus ganz Europa kamen aufgrund der gut ausgebauten Bahnverbindungen in Auschwitz an – die heute bekannten Gleise ins Lager selbst wurden allerdings erst zu Beginn der „Ungarn-Aktion“ 1944 gelegt. Unter den Deportierten befanden sich insgesamt 1,1 Mio. Juden*Jüdinnen, 140.000 Pol*innen, 20.000 Sinti*zze und Rom*nja, 10.000 sowjetische Kriegsgefangene und weitere 10.000 Opfer anderer Nationalitäten und Verfolgtengruppen (z. B. Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ oder politische Gefangene).
Ab Frühjahr 1942 kann KZ Auschwitz II (Birkenau) als Vernichtungslager im Rahmen des Holocaust bzw. der Shoah bezeichnet werden, in dem die Mehrzahl der Ankommenden sofort ermordet wurde: Ca. 900.000 der insgesamt 1,3 Mio. Deportierten werden gar nicht erst als Häftlinge registriert, sondern direkt in die Gaskammern geschickt. Die ungefähr 400.000 Personen, die diese erste Selektion überlebten, mussten Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen leisten, waren Hunger, Seuchen, Gewalt und medizinischen Experimenten ausgesetzt – dies führte zum Tod von über der Hälfte dieser registrierten Gefangenen. Insgesamt wurden 1,1 Mio. Menschen in Auschwitz ermordet, 960.000 davon wurden als Juden*Jüdinnen verfolgt – aus dieser Gruppe wurden ca. 860.000 direkt bei Ankunft ermordet.
Vor allem gegen Kriegsende und kurz vor der Befreiung des Lagerkomplexes Auschwitz wurden zahlreiche Häftlinge in andere Lager westwärts bzw. auf sogenannte Todesmärsche gezwungen. Die dabei Verstorbenen werden nicht in den Statistiken zu Auschwitz erfasst. Als die Rote Armee das Lager am 27. Januar 1945 befreit, befinden sich dort noch ca. 8.000 als „transportunfähig“ eingestufte Menschen, viele davon sterben noch in der Zeit darauf an den Folgen der Lagerhaft und Zwangsarbeit.
Die heutige Gedenkstätte unter dem Namen Auschwitz-Birkenau – deutsches nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager (1940–1945) besteht seit 1947 und empfängt jedes Jahr ca. 2 Mio. Besuchende aus aller Welt.
Aufgaben
1. Genre DokumentarfilmDefinition
Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff Dokumentarfilm non-fiktionale Filme, die mit Material, das sie in der Realität vorfinden, einen Aspekt der Wirklichkeit abbilden. John Grierson, der den Begriff prägte, verstand darunter den Versuch, mit der Kamera eine wahre, aber dennoch dramatisierte Version des Lebens zu erstellen; er verlangte von Dokumentarfilmer*-innen einen schöpferischen Umgang mit der Realität. Im Allgemeinen verbindet man mit dem Dokumentarfilm einen Anspruch an Authentizität, Wahrheit und einen sozialkritischen Impetus, oft und fälschlicherweise auch an Objektivität. |
a)
Markiert einen Begriff in der Definition, der aus eurer Sicht besonders zentral für einen Dokumentarfilm ist und haltet fest, was ihr damit spontan assoziiert. Findet ihr diese Aspekte auch in Auschwitz – Countdown zur Befreiung wieder? Wenn ja, auf welche Weise? An welchen Stellen vielleicht nicht?
b)
Seht die Screenshots und die dazugehörigen Definitionen an: Welche Formate nutzt der Film, um „Authentizität“ zu symbolisieren? Wie wird die Geschichte zusätzlich „dramatisiert“?
Zeitzeug*inneninterviews:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Ein Zeitzeug*inneninterview ist ein dokumentarisches Gespräch mit Personen, die historische Ereignisse selbst er- oder überlebt haben, um deren Erfahrungen festzuhalten und für die Nachwelt zugänglich zu machen. Im Kontext des Holocaust gewannen solche Interviews ab den 1980er-Jahren zunehmend an Bedeutung, vor allem durch die Entwicklung des Mediums Film. Die Verbreitung tragbarer Videokameras ermöglichte es, die Berichte von Überlebenden in bewegten Bildern aufzuzeichnen, was weit über schriftliche oder mündliche Erzählungen hinausging. Projekte wie Claude Lanzmanns Film Shoah (1985) oder die Visual-History-Archive-Initiative der USC Shoah Foundation (gegründet von Steven Spielberg 1994) setzten dabei neue Maßstäbe. Sie zeichneten Tausende Interviews mit Holocaustüberlebenden weltweit auf. Diese filmischen Dokumente bewahren nicht nur die Worte der Zeitzeug*innen, sondern auch deren Ausdruck, Tonfall und Emotionen, was eine persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglicht.
Reenactment:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Reenactment in Dokumentarfilmen bezeichnet die inszenierte Nachstellung realer Ereignisse oder Situationen. Dabei werden Szenen mithilfe von Schauspieler*innen, Requisiten und filmischen Mitteln nachgebildet, um Lücken in der dokumentarischen Darstellung zu schließen, vergangene Ereignisse visuell erfahrbar zu machen oder die emotionale Wirkung zu verstärken. Besonders im Kontext von historischen Dokumentarfilmen wird Reenactment genutzt, um Ereignisse darzustellen, die nicht durch zeitgenössische Aufnahmen dokumentiert wurden. Reenactment ist umstritten, da die inszenierten Elemente die Grenze zwischen dokumentarischer Authentizität und künstlerischer Interpretation verwischen können.
Historische Aufnahmen:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Die Verwendung historischer Aufnahmen in Dokumentarfilmen dient dazu, vergangene Ereignisse authentisch und visuell nachvollziehbar darzustellen. Dieses Originalmaterial aus Archiven vermittelt eine direkte Verbindung zur jeweiligen Zeit und verleiht dem Film Glaubwürdigkeit. Sie werden häufig genutzt, um historische Kontexte zu illustrieren, Stimmungen einzufangen oder Aussagen von Zeitzeug*innen zu ergänzen. Gleichzeitig erfordert der Einsatz solcher Aufnahmen eine sorgfältige Einordnung, um Fehlinterpretationen zu vermeiden und sicherzustellen, dass sie im dokumentarischen Kontext korrekt wiedergegeben werden. Denn auch historische Aufnahmen, die implizit „ultimative Objektivität und Authentizität“ signalisieren, wurden von bestimmten Personen zu einem bestimmten Zweck gemacht, betonen bestimmte Aspekte und lassen andere weg. Dieser Aufnahmekontext sollte transparent gemacht werden.
Diskussionsanregungen:
Was könnte die Funktion des jeweiligen Elements sein, warum wird es eingesetzt?
Welche Wirkung soll damit erzielt werden? Wie wirkt es auf euch?
Was wirkt auf euch besonders authentisch? Warum?
Gibt es Aspekte oder Elemente, die ihr im Hinblick auf Authentizität kritisch seht?
c)
Stilistische Elemente wie Farbe, Licht oder Ton werden in Filmen oft genutzt, um „Unzeigbares“ zu zeigen (z. B. Gefühle, abstrakte Konzepte wie „Gut und Böse“, Zeitsprünge, …). Analysiert, wie das bei Auschwitz – Countdown zur Befreiung geschieht:
- Wie würdet ihr Musik und Sound beschreiben? An welchen Stellen werden sie eingesetzt? Was signalisieren sie dem Publikum?
- Wie ist die Farbgebung und das Licht? Eher hell, eher dunkel? Dramatisch oder sanft? Ändert es sich an manchen Stellen?
- Wie wirken die kolorierten historischen Aufnahmen im Vergleich zu Schwarz-Weiß-Aufnahmen? Warum könnten die Filmemacher*innen diese eingesetzt haben?
[Video: © WildBear Entertainment 2023]
KI-colorierte Sequenz im Vergleich mit dem Original aus dem Dokumentarfilm Secret Weapons of WWII
Hinweis und Diskussionsanregung:
Der Holocaust wird oft in dunklen Tönen oder in Schwarz-Weiß dargestellt. Zum einen liegt das an der Assoziation dieser Farben mit „Traurigkeit“, zum anderen daran, dass die meisten Bilder, die aus dieser Zeit existieren, schwarz-weiß sind. Was macht es mit unserer Wahrnehmung und Vorstellung, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der Holocaust in der realen Welt stattfand, einer farbigen Welt, in der auch die Sonne schien und Blumen blühten? Empfinden wir das vielleicht als „unangemessen“? Widerspricht das den Bildern, die wir zu dem Thema im Kopf haben?
Aufgaben
2. Der Umgang mit historischen QuellenEin Foto ist heute schnell gemacht und geteilt – mit unseren Smartphones dokumentieren wir mit einem Klick unseren gesamten Alltag. Zur Zeit des Nationalsozialismus war das noch anders – nur wenige Menschen besaßen überhaupt Fotoapparate und die Filme mussten zeitaufwendig und kostspielig im Labor entwickelt werden. Das bedeutet, dass das Erstellen von Fotos oft sorgfältiger geplant werden mussten als heute. Den Nutzen des noch recht jungen Mediums Fotografie und der visuellen Selbstinszenierung als Propagandawerkzeug entdeckten die Nationalsozialisten jedoch früh: Fotos können Emotionen vermitteln, sie erwecken den Eindruck von Authentizität und Objektivität und erzählen so als vermeintlich objektive „Zeugen“ auch von weit entfernten Ereignissen. Unser Bild von Nationalsozialismus und Holocaust ist daher bis heute stark durch den Täter*innenblick geprägt – oft, ohne dass uns dies bewusst ist. Doch auch verfolgte Gruppen wie Juden*Jüdinnen nutzten das Mittel der Fotografie – um zu dokumentieren, Beweise zu sichern und kostbare Erinnerungen festzuhalten. Ihre Aufnahmen entstanden unter gänzlich anderen Bedingungen, meist heimlich und unter großer Gefahr. Umso wichtiger ist es heute, Fotografien aus der Zeit des Dritten Reichs unter diesen Gesichtspunkten differenziert zu betrachten und zu analysieren. Die Untersuchung des spezifischen Kontexts einer historischen Quelle nennt man Quellenkritik und/oder -interpretation.
Auschwitz – Countdown zur Befreiung nutzt verschiedene historische fotografische und filmische Quellen:
Teilt euch in vier Gruppen auf und lest jeweils den Hintergrundtext zum jeweiligen Bild. Versucht dann, die Fragen des Analyseleitfadens zu beantworten und stellt euer Ergebnis dem Rest der Gruppe vor. Dabei könnt ihr euch vor allem auf folgende Fragen fokussieren:
- Mit welchem Ziel wurden die Bilder jeweils aufgenommen?
- Unter welchen Umständen?
- Wie unterscheiden sich die jeweiligen Perspektiven (Opfer, Täter*innen, Alliierte, Befreier)?
Fotos von Alberto Errera:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Der Film greift hier zurück auf Fotos von Alberto Errera
Die Bilder wurden höchstwahrscheinlich von Alberto Errera aufgenommen, einem griechisch-jüdischen Marineoffizier, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Errera war Teil des sogenannten „Sonderkommandos“ – einer Gruppe Häftlinge, die von der SS gezwungen wurde, die Vergasungen vorzubereiten und anschließend die Leichen zu verbrennen. Mitglieder des Sonderkommandos wurden in regelmäßigen Abständen hingerichtet und ersetzt, um Zeug*innenschaft zu verhindern. Dem wollte die Gruppe um Errera entgegenwirken: Es gelang ihm, mit einer geschmuggelten und versteckten Kamera im August 1944 u. a. Bilder der Leichenverbrennung zu machen. Die verwackelten weiteren Aufnahmen der Sequenz zeugen von den Umständen, unter denen sie gemacht wurden. Der Film wurde in einer Zahnpastatube aus dem Lager geschmuggelt und an den polnischen Widerstand übergeben. Die Fotos gelten heute als die einzigen nicht inszenierten Aufnahmen der Shoah in Auschwitz.
Lili-Jacob-Album:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Der Film greift hier zurück auf das Lili-Jacob-Album
Die Aufnahmen sind das einzige fotografische Zeugnis einer Selektion und haben das kollektive Bild der Shoah und von Auschwitz stark geprägt. Das sogenannte Lili-Jacob-Album wurde nach seiner Finderin benannt: Die Auschwitz-Überlebende Lili Jacob fand das Fotoalbum nach der Befreiung in einer verlassenen SS-Baracke im KZ Mittelbau-Dora – und erkannte sich selbst sowie Familienmitglieder auf den Bildern. Das Album muss dort bei der Flucht von einem der SS-Männer Ernst Hofmann oder Bernhard Walter zurückgelassen worden sein; die beiden (oder einer der beiden) gelten auch als Urheber der Bilder. Diese wurden vermutlich zwischen Mai und Juli 1944 aufgenommen und zeigen die Ankunft von Deportationszügen mit ungarischen Juden*Jüdinnen, die Selektion der Menschen und wartende Frauen und Kinder vor der Gaskammer, unmittelbar vor ihrer Ermordung. Der Zweck der Aufnahmen ist unklar – sicher ist aber, dass viele davon gezielt inszeniert wurden und die abgebildeten Menschen teilweise Anweisungen bekamen. Kopien des Fotoalbums wurden SS-Führungskräften vorgelegt. Das Album diente u. a. beim Frankfurter Auschwitz-Prozess als Beweismittel.
Luftaufnahmen der Alliierten:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Der Film greift hier zurück auf Luftaufnahmen der Alliierten
Die südafrikanische Luftwaffe machte im Frühjahr 1944 die ersten Aufnahmen der Alliierten von Auschwitz – dies fand im gleichen Zeitraum statt wie die Aufnahmen des Lili-Jacob-Albums. Die Bilder wurden gemacht, um Angriffe auf deutsche Kriegsindustrie zu planen, die die Alliierten an diesem Ort vermuteten. Im Fokus stand die Bombardierung der IG-Farben-Fabrik in Auschwitz-Monowitz, die im August und September 1944 stattfand. Obwohl die danebenliegenden Baracken als Lager identifiziert wurden, erfassten die Fotoanalytiker der Alliierten zu diesem Zeitpunkt nicht die Bedeutung des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau. Zudem lag der Fokus auf der Identifizierung von kriegswichtigen Industrieanlagen, weniger auf den Baracken – was dort unten wirklich vorging, wurde so zunächst übersehen. Die tatsächliche Auswertung der Bilder fand erst 1978 statt – sowohl Gefangene wie auch Gaskammern und Krematorien sind auf den Aufnahmen zu erkennen.
Filmaufnahmen der Roten Armee:

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung
Der Film greift hier zurück auf Filmaufnahmen der Roten Armee
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das KZ Auschwitz befreit, sind auch Kameramänner Teil des Trupps. Die Soldaten waren schockiert von den Zuständen im Lager und realisierten erst langsam das Ausmaß der Vernichtung und Gewalt. „Wir hatten keine konkreten Anweisungen, weil keiner wusste, was wir dort sehen würden“, berichtete der damalige sowjetische Kameramann Alexander Woronzow[1]. Die Filmaufnahmen dienten zum damaligen Zeitpunkt vorrangig der Dokumentation der Verbrechen der Nationalsozialisten, natürlich ist aber auch der Aspekt der Selbstinszenierung der Roten Armee nicht zu vernachlässigen – die Aufnahmen des Grauens dienten auch als Beweis für die Legitimität der Kriegsführung gegen Nazi-Deutschland. Ähnliche Filme der britischen und US-amerikanischen Armee wurden außerdem zur versuchten „Umerziehung“ der deutschen Bevölkerung genutzt. Der Auschwitz-Überlebende Tomy Shacham erzählt von den Dreharbeiten: „Die Russen beschlossen, einen Film zu drehen, um die Befreiung von Auschwitz zu zeigen. Sie zogen uns gestreifte Klamotten an, dann sollten wir zwischen den Zäunen entlanglaufen. […] Sie versuchten, alles nachträglich zu filmen.“ Er ordnet diese Nachstellung folgendermaßen ein: „Erst jetzt verstehe ich die russischen Bilder. Das sind fast die einzigen Aufnahmen von dort. Die Russen filmten das Lager zwar erst einen Monat nach der Befreiung, aber authentisch ist es trotzdem. Sie zeigen der Welt, was wir erlebt haben.“[2]
Leitfaden für die Analyse historischer Fotografien
1. Die Bildentstehung, Bildverbreitung und -rezeption erschließen:
2. Den Bildinhalt beschreiben:
3. Die Bildgestaltung und deren Wirkung erschließen:
Frei nach: Weinhold, Andreas: Den fotografischen Blick durchschauen lernen. Zum Umgang mit historischen Fotografien im Geschichtsunterricht, in: Medienbrief des LVR-Zentrums für Medien und Bildung 2/2012, S. 40–43 |
Aufgaben
3. Timeline – der Countdown zur BefreiungMalt einen Zeitstrahl mit den unten beschriebenen Ereignissen, an dessen Ende der 27. Januar 1945 als Tag der Befreiung steht: Diese Wendepunkte und Zeitpunkte werden in Countdown zur Befreiung herausgehoben.
Warum wurden wohl genau diese Ereignisse gewählt?
Was erzählen sie über den Weg zur Befreiung? Welchen Titel würdet ihr dem jeweiligen Ereignis geben?
Wie würdet ihr den Zeitstrahl zeichnen, um den Weg zur Befreiung darzustellen: als gerade Linie, im Zickzack, oder anders? Warum?
Welche Informationen vermitteln uns die Ereignisse über verschiedene Aspekte des Holocaust und von Auschwitz?
Welche Gleichzeitigkeiten, Parallelen und vielleicht auch Paradoxien fallen euch auf, wenn ihr den Zeitpunkt der einzelnen Ereignisse vergleicht? Überrascht euch manches? Was findet ihr besonders bemerkenswert?
Frühjahr 1944 – „Ungarn-Aktion“:
Obwohl Ungarn zunächst verbündet mit Nazi-Deutschland war, waren die dortigen Juden*Jüdinnen bis zum Einmarsch der Wehrmacht 1944 relativ geschützt. Ab Mai 1944 wurden in zwei Monaten 425.000 der 795.000 jüdischen Ungar*innen im Rahmen der sogenannten „Ungarn-Aktion“ nach Auschwitz deportiert, wo über 300.000 direkt bei ihrer Ankunft ermordet wurden. In dieser Zeit kamen teilweise täglich ca. 10.000 Deportierte in Auschwitz-Birkenau an, wofür extra Bahngleise ins Lagergelände verlegt wurden. Ab Juli 1944 stoppte die ungarische Regierung auf internationalen Druck hin die Deportationen, weitere zehntausende Juden*Jüdinnen wurden jedoch nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt. Insgesamt wurden 502.000 ungarische Juden*Jüdinnen während des Holocaust ermordet. Gleichzeitig wurde im Frühjahr und Sommer 1944 zunehmend klar, dass Deutschland auf eine militärische Niederlage zusteuerte – die Alliierten hatten beispielsweise den deutschen Luftraum unter ihre Kontrolle gebracht und begannen ihre Invasion in der Normandie, die deutsche Ostfront wurde durch die Rote Armee zerschlagen.
2. August 1944 – Auflösung des sogenannten „‚Zigeuner‘familienlagers“:
Im Gegensatz zu den übrigen Häftlingen, die getrennt in Männer- und Frauenbereichen des Lagerkomplexes Auschwitz untergebracht waren, richtete die SS ein sogenanntes „Familienlager“ für Rom*nja und Sinti*zze ein. Dieses wurde am 2. August 1944 „liquidiert“, d. h. alle dort lebenden Häftlinge wurden in den Gaskammern ermordet. Grund dafür war, dass die Lagerleitung Platz schaffen wollte für die vielen deportierten ungarischen Juden*Jüdinnen, die zu diesem Zeitpunkt in Auschwitz ankamen. Bereits im Mai 1944 war es im Familienlager zu heftigem Widerstand gegen eine anstehende „Liquidierung“ gekommen, sodass die SS nun vorsorglich die „arbeitsfähigen“ Gefangenen zur Zwangsarbeit hatte abtransportieren lassen. Die zurückgebliebenen Alten, Kranken, Frauen und Kinder waren ihnen nun ausgeliefert. Trotzdem kam es zu starker Gegenwehr, da die Menschen wussten, was ihnen drohte. Unter Anwendung äußerster Brutalität wurden sie auf Lastwagen zum Krematorium gebracht. In dieser Nacht wurden ca. 4.200 Menschen in Auschwitz ermordet. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden insgesamt ca. 500.000 Rom*nja und Sinti*zze in ganz Europa ermordet.
7. Oktober 1944 – Sonderkommando-Aufstand:
Die Revolte des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau hatte das Ziel, die Vernichtungsanlagen zu zerstören. Das Sonderkommando, eine Gruppe von jüdischen Häftlingen, die zur Arbeit in den Krematorien gezwungen wurden, wurde streng isoliert, da sie als Zeugen des Massenmordes als gefährlich betrachtet wurden. Angesichts ihrer drohenden eigenen Ermordung durch die Lagerleitung begannen sie 1943 mit der Planung des Aufstands und wurden dabei von weiblichen Häftlingen aus dem Lagerwiderstand unterstützt, die Schießpulver aus einer Munitionsfabrik schmuggelten. Damit bauten die Mitglieder des Sonderkommandos Granaten, mit denen es ihnen gelang, ein Krematorium vollständig zu zerstören und ein weiteres zu beschädigen, die daraufhin nicht wieder aufgebaut wurden. Sie griffen außerdem mit geschmuggelten Waffen ihre Bewacher an. Dieser verzweifelte und mutige Widerstand wurde schnell von der SS niedergeschlagen, über 450 Häftlinge wurden hingerichtet. Die Rote Armee war zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige hundert Kilometer von Auschwitz entfernt.
25. November 1944 – Zerstörung der Gaskammern:
Die letzten Vergasungen in Auschwitz-Birkenau fanden Ende Oktober oder Anfang November 1944 statt, danach riss die Lagerleitung die Gaskammern ab bzw. sprengte diese und baute wenig später die Krematoriumsöfen ab. Vor dem Eintreffen der heranrückenden Rote Armee sollten so Beweise für die Verbrechen der Nationalsozialisten vernichtet werden. Weitere Spuren der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz wurden ebenfalls in den nächsten Wochen beseitigt: So brannte die SS beispielsweise 30 Baracken ab, die gefüllt waren mit den geraubten Habseligkeiten der ermordeten Menschen und vernichtete massenhafte Dokumente. Trotzdem reichte die Zeit angesichts der Mengen an Beweismaterial nicht aus – die sowjetischen Befreier fanden u. a. fast 900.000 Damenkleider, sieben Tonnen geschorene Haare und bergeweise Brillen, Gebisse und Koffer vor, außerdem die baulichen Überreste der zerstörten Gaskammern und Krematorien.
Mitte Januar 1945 – „Evakuationen“ und Todesmärsche:
Die von der SS beschönigend als „Evakuation“ bezeichnete Räumung des Lagerkomplexes Auschwitz kostete Hunderttausende das Leben. Bereits in den vergangenen Monaten wurden arbeitsfähige Häftlinge zunehmend in andere Konzentrationslager im damaligen Deutschen Reich verlegt. Als die Rote Armee nun unmittelbar vor der Tür steht, zwingt die Lagerleitung auch die übrigen transportfähigen Gefangenen (ca. 56.000 Menschen) auf Gewaltmärschen und Zugtransporten in Richtung Westen. Lediglich ca. 8.000 zu geschwächte Häftlinge und Kinder werden im Lager zurückgelassen. Während der sogenannten Todesmärsche sterben zwischen 9.000 – 15.000 Menschen an Entkräftung, Kälte, Hunger und Krankheit oder werden von der SS ermordet. Die Überlebenden kommen in die bereits völlig überfüllten Konzentrationslager auf deutschem Boden, wo sich die Konditionen und Überlebenschancen im Winter 1944/45 dramatisch verschlechtern. Wer dies überlebte, erlebte die Befreiung also nicht am 27. Januar, sondern entweder auf einem der Todesmärsche oder in einem der deutschen Lager, die erst Ende April 1945 von den Alliierten befreit wurden.
Aufgaben
4. Befreiung – ein Happy End?a)
Was erzählen die Zeitzeug*innen über die Befreiung? Wie wurde sie erlebt? Was waren ihre Gefühle? Notiert jeweils ein Zitat, dass ihr besonders eindrücklich oder interessant findet.
Diskussionsanregung:
Die Befreiung aus dem Konzentrationslager war für die meisten Überlebenden kein „Happy End“, sondern wird oft ambivalent erlebt und beschrieben. Welche möglichen Gründe fallen euch dafür ein? Welche werden im Dokumentarfilm beschrieben?
b)
Während Zeitzeug*innen, also Holocaustüberlebende, die ihre Geschichte erzählen, heute für uns ein – noch – gewohntes Bild sind, war und ist das Sprechen über den Holocaust nicht selbstverständlich. Nach Kriegsende wollten die Menschen in vielen Ländern diese Geschichten nicht hören oder zweifelten sie sogar an. Den Überlebenden wurde nicht zugehört, nicht geglaubt oder sie sahen sich Spekulationen darüber ausgesetzt, welche Taten sie begangen haben könnten, um zu überleben. Und viele Überlebende wollten und/oder konnten auch selbst nicht über das sprechen, was ihnen angetan worden war. Zu tief saß das Trauma und der Verlust, der oft sprachlos machte. Während wir das Glück haben, den Überlebenden im Dokumentarfilm zuhören zu können, müssen wir uns bewusst sein, dass sie eine Minderheit darstellen: Der Großteil der Holocaustüberlebenden hat nie – oder nicht öffentlich – über die Erlebnisse gesprochen.
Lest die Kurzbiografien und fasst zusammen:
- Wie ging das Leben für die Überlebenden weiter?
- Wie hat sie ihre Erfahrung in Auschwitz geprägt?
- Was bedeutet das „Sprechen über Auschwitz“ für sie?
- Was ist ihre Motivation, öffentlich zu sprechen?
- Was waren Hindernisse, dies zu tun?
René Slotkin und Irene Hizme


[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung, René Slotkin und Irene Hizme
Die Zwillinge René und Renate Guttmann wurden 1937 in der Tschechoslowakei geboren. Als Kinder wurden sie nach Auschwitz deportiert, wo ihre Eltern ermordet wurden. Die Zwillinge wurden vom Lagerarzt Josef Mengele für medizinische Experimente missbraucht und im Verlauf ihrer Gefangenschaft in Auschwitz getrennt. Während René als „Kontrollzwilling“ fungierte, wurden Renate Substanzen injiziert. Bis an ihr Lebensende wusste sie nicht, welche Experimente an ihr durchgeführt worden waren – als Erwachsene litt sie an Multipler Sklerose, die sie teilweise auf die Experimente zurückführte. Nach der Befreiung kamen die beiden Waisen zunächst getrennt in Obhut: René lebte bei einer tschechoslowakischen Familie, Renate zunächst bei einer Frau in Polen, die ihren Namen in „Irene“ änderte, und wurde später von einer Familie in den USA adoptiert. Als sie ihren Adoptiveltern erzählte, dass sie einen Zwillingsbruder habe, machten diese mithilfe eines Privatdetektivs René ausfindig und adoptierten ihn ebenfalls. So wurden die beiden damals zwölfjährigen nach sechs Jahren Trennung wiedervereint. Sie verbrachten ihr Leben in den USA, gründeten je eigene Familien, bekamen Kinder, Enkel und Urenkel und setzten sich gemeinsam für die Erinnerung an den Holocaust ein. Dies dauerte allerdings fast 40 Jahre – bis 1985 sprachen sie nicht über ihre Erlebnisse: „Es war ein Tabuthema“, sagte Irene. „Meine Eltern wollten nicht darüber reden. Sie wollten, dass wir Amerikaner sind und mit dem Strom schwimmen. Ich habe gelernt, wie man das macht – es ist auch eine Art Überleben.“[3] Irene starb 2019, René 2022.
Samuel Modiano

[Bild: © 2025 Picasso Film – TVP – Inbornmedia with participation of RTL Germany/ntv News & Documentary Television]
Screenshot aus dem Dokumentarfilm Auschwitz – Countdown zur Befreiung, Samuel Modiano
Samuel Modiano wurde 1930 auf der griechischen Insel Rhodos geboren und 1944 von den Nationalsozialisten von dort nach Auschwitz deportiert. Nach seiner Befreiung am 27. Januar 1945 gerade wieder zu Kräften gekommen, ließ er sich von der Roten Armee hinter die Frontlinie des noch laufenden Krieges auf deutsches Gebiet bringen und hob dort Schützengräben aus – er wollte unbedingt dabei helfen, die deutsche Armee zu besiegen. Danach lebte er im Kongo und in Rom, bevor er nach Rhodos zurückkehrte und seine Frau heiratete. 2005 besuchte Modiano die Gedenkstätte Auschwitz zum ersten Mal; erst im Alter fand er die Kraft, auch seine Geschichte zu erzählen: „Ich bin immer noch da, in Birkenau. Dort habe ich meine Schwester Lucia und meinen Vater Giacobbe verloren. Ich kann es nicht vergessen. Ich kam aus dieser Hölle heraus und nach vielen Jahren wurde mir klar, dass ich eine Mission hatte: allen zu erzählen, was passiert ist, insbesondere jungen Menschen. Lange Zeit fragte ich mich: ‚Warum ich? Warum habe ich überlebt?‘ Diese Wunde wird nie heilen, aber ich verstehe, warum es lebenswert ist. Für euch, um euch zu sagen, was passiert ist.“[4]
c)
Lest den Überblickstext Befreiung und Überleben im Anhang. Sammelt und sortiert die verschiedenen Aspekte aus dem Text, den Kurzbiografien und eure eigenen Überlegungen auf einem Plakat – in welcher Situation befanden sich die jüdischen Überlebenden des Nationalsozialismus nach Kriegsende und wie gingen sie damit um?
- Sozial: Wie war ihre familiäre Situation? Wie war die Situation an ihren Heimatorten?
- Psychologisch: Welche psychischen Folgen hatten die erlittene Verfolgung und Gewalt? Welche Strategien nutzten Überlebende, um damit umzugehen?
- Körperlich: Mit welchen gesundheitlichen Folgen hatten die Überlebenden zu kämpfen?
- Materiell: Was war mit ihrem Besitz oder ihren Häusern geschehen? Wie stand es um Berufs- und Schulausbildung – besonders im Fall von Menschen, die als Kinder im KZ waren?
- Gesellschaftlich: Wie war das gesellschaftliche Klima, insbesondere in Deutschland und Osteuropa nach dem Krieg? Wie wurde den jüdischen Überlebenden bzw. Rückkehrenden begegnet?
Aufgaben
5. Und die Täter? Nachkriegsjustiz in DeutschlandNach dem Zweiten Weltkrieg fanden in den besetzten Gebieten einige bedeutende Prozesse gegen NS-Täter*innen statt, darunter die Nürnberger Prozesse (1945–1946), in denen führende Köpfe des NS-Staates wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden. Viele Verantwortliche entzogen sich der Justiz, indem sie untertauchten, oft unter falschen Namen, oder ins Ausland flohen. Besonders Südamerika wurde zu einem Zufluchtsort für NS-Verbrecher wie Adolf Eichmann, der erst 1960 in Argentinien gefasst wurde. Bis in die 1950er-Jahre wurden in den alliierten Besatzungszonen etwa 5.000 Verfahren gegen NS-Täter*innen durchgeführt. Mit Beginn des Kalten Krieges verloren jedoch vor allem die USA das Interesse an der weiteren Verfolgung, da Deutschland zunehmend als Partner gegen die Sowjetunion gesehen wurde. Ab den 1950er-Jahren lag die Strafverfolgung von NS-Täter*innen größtenteils in der Verantwortung deutscher Gerichte. In der Bundesrepublik erschwerte die personelle Kontinuität in der Justiz die Strafverfolgung: Viele Richter, Staatsanwälte und Beamte, die während der NS-Zeit tätig gewesen waren, kehrten in ihre Positionen zurück. Dies führte häufig zu milden Urteilen oder eingestellten Verfahren. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte „Auschwitz-Prozess“ (1963–1965), der erste größere Versuch der deutschen Justiz, sich mit der Rolle von Täter*innen aus Konzentrationslagern auseinanderzusetzen. Trotz einiger Erfolge blieb die Zahl der Verurteilten im Verhältnis zum Ausmaß der Verbrechen gering: Von den schätzungsweise 200.000 Täter*innen wurden nur etwa 6.600 verurteilt.
a)
Wie sprechen die ehemaligen SS-Angehörigen im Film über ihre Taten? Wie ordnen sie diese im Nachhinein ein? Welche Gefühle werden dabei sichtbar? Gibt es Unterschiede zwischen der Darstellung der einzelnen Männer? Welche Gründe könnten sie dafür haben, im Nachhinein öffentlich über ihre Taten zu sprechen/sprechen zu wollen?
Lest den Text im Anhang über Oskar Gröning, der auch im Film als Zeitzeuge auftritt und diskutiert: Wie sah Gröning seine Schuld und Verantwortung? Welche Aspekte von rechtlicher und/oder moralischer Schuld werden an seinem Fall deutlich? Was macht einen Menschen zum Täter? Inwiefern ist er repräsentativ oder nicht repräsentativ für die deutsche postnationalsozialistische Gesellschaft?
Nürnberger Prozesse
Die Sowjetunion, Frankreich, USA und Großbritannien rufen Anfang August 1945 einen gemeinsamen Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg ins Leben. Richter und Staatsanwälte aus allen vier Nationen sind hier zuständig für die Verurteilung von führenden Köpfen des NS-Regimes: 22 Täter müssen sich ab November 1945 der Justiz stellen. Im Herbst 1946 werden nach fast einem Jahr Verhandlungsdauer die Urteile verkündet: Zwölf werden zum Tode verurteilt, sieben erhalten langjährige Haftstrafen, drei werden freigesprochen. Zehn Todesurteile werden am 16. Oktober vollstreckt, Hermann Göring (führender Minister der NSDAP) hatte sich seiner Hinrichtung kurz vorher durch Suizid entzogen und Martin Bormann (Stellvertreter Hitlers) war in Abwesenheit verurteilt worden. Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, wird nach Polen ausgeliefert und tritt daher „nur“ als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen auf. Historische Person: Rudolf Höß (1901 – 1947) Rudolf Höß kam als junger Mann im Rahmen landwirtschaftlicher Gemeinschaften mit der nationalsozialistischen Ideologie in Berührung und gehörte selbst als Führungsperson dem radikal-völkischen Siedlungsbund „Bund der Artamanen“ an, wo er auch seine spätere Frau Hedwig kennenlernte. Höß verbüßte von 1924 – 1928 eine Zuchthausstrafe, da er gemeinsam mit anderen Mitgliedern seiner landwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft einen vermeintlichen „Verräter“ umgebracht hatte. 1940 wurde er als Lagerkommandant in das KZ Auschwitz versetzt, um das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aufzubauen und wurde explizit mit der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt. Von November 1943 bis Mai 1944 wurde Höß nach Berlin berufen, kehrte dann aber nach Auschwitz zurück, um die sogenannte „Ungarn-Aktion“, die Vernichtung der ungarischen Juden*Jüdinnen zu organisieren. Nach „Beendigung“ dieser Aufgabe leitete Rudolf Höß im KZ Ravensbrück die dort ab Ende 1944 stattfindenden Massenvergasungen und -tötungen. Nach Kriegsende tauchte Höß als „Fritz Lang“ bei Flensburg unter, wurde 1946 jedoch von der britischen Militärpolizei gefangengenommen. Höß machte während der Nürnberger Prozesse detaillierte Aussagen zu den Massentötungen und Abläufen in Auschwitz und beschrieb sich als reinen Befehlsempfänger, der über ethische Fragen gar nicht nachdachte. Höß wurde nach Polen ausgeliefert und im April 1947 auf dem früheren Lagergelände des KZ Auschwitz neben seinem ehemaligen Wohnhaus gehängt. |
b)
Lest den Text zu den Nürnberger Prozessen im Anhang und fasst in einer Tabelle mit 4 Spalten (rechtlich, gesellschaftlich, politisch, medial) zusammen, was die Auswirkungen des Prozesses auf die verschiedenen Sphären waren – was war damals neu? Was sind Auswirkungen bis heute?
c)
Hier findet ihr Informationen zum Frankfurter Auschwitzprozess, seiner Vorgeschichte und seinen Auswirkungen: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/314099/vor-55-jahren-urteil-im-frankfurter-auschwitz-prozess/
In dem Beitrag und den dort verlinkten Quellen könnt ihr folgende Fragen recherchieren, die ihr auf einem Plakat zusammentragt:
- Aus welchen Gründen fand der Auschwitzprozess erst 1963 statt?
- Wer war angeklagt und wurde zu welcher Strafe verurteilt?
- Auf welcher juristischen Grundlage waren sie angeklagt? Welche juristischen Gründe machten eine Anklage schwierig?
- Was geschah im Verlauf der weiteren Jahre mit den Verurteilten? Wie entwickelte sich die Rechtssprechung nach den Auschwitzprozessen weiter?
Diskussionsanregungen:
Welche verschiedenen Motive könnt ihr im Verlauf der Nachkriegszeit bis heute ausmachen, die Verfolgung von Kriegsverbrechen erschwerten und „Schlussstrich“-Forderungen auslösen? Was bedeutet Recht und Gerechtigkeit eurer Meinung nach im postnationalsozialistischen Deutschland?
Anhang
zu den Aufgaben 4c) sowie 5a) und 5b)zu Aufgabe 4c)
Quelle: Yad Vashem – Internationale Holocaust-Gedenkstätte: Befreiung und Überleben. URL: https://www.yadvashem.org/de/education/educational-materials/lesson-plans/liberation-and-survival.html
Befreiung und Überleben
[…]
Was bedeutete die Befreiung für die jüdischen Überlebenden?
Die Befreiung hätte für die Überlebenden ein glücklicher Tag sein sollen. Endlich keine ständige Todesangst mehr, der sie so viele Jahre lang ausgesetzt waren. Für die jüdischen Überlebenden jedoch war die Befreiung zu spät gekommen. Ganze Gemeinden, vor allem in Osteuropa, waren ausgelöscht und deren Mitglieder ermordet worden. Über 90 % der jüdischen Gemeinden Polens, der größten Europas, waren zerstört.[5] In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und auf dem Balkan war das Ergebnis fast dasselbe. In vielen Fällen waren ganze Familien ermordet worden, nur einzelne Mitglieder waren noch übrig. Eine Bestandsaufnahme der Organisation der jüdischen Flüchtlinge in Italien ermittelte zum Beispiel, dass 76 % der jüdischen Flüchtlinge ihre gesamte unmittelbare Familie und alle Verwandten verloren hatten. Sie waren die einzigen Überlebenden ihrer Familien.[6]
Bei ihrer Befreiung wurde den jüdischen Überlebenden plötzlich die Unermesslichkeit ihrer Verluste bewusst. Bis zu ihrer Befreiung hatten sie alle ihre Bemühungen auf den Überlebenskampf konzentriert: Sie suchten nach Essen, sie versuchten sich zu schützen, sie lebten von einer Minute zur anderen. Dieser Überlebenskampf ließ keinen Raum für Gedanken an die verlorene Welt: ihre Familie, Freundinnen und Freunde, ihre Berufe und Gewohnheiten, ihre Stadtviertel und Besitztümer. Plötzlich waren sie mit einer neuen Realität konfrontiert. Ihre Familien existierten nicht mehr und ihr Leben war für immer verändert. Während der Rest der Welt die Toten zählte, zählten die Jüdinnen und Juden die Lebenden.
Yitzhak (Antek) Zuckermann, ein Mitglied des jüdischen Untergrunds, der unter anderem auch im Warschauer Ghettoaufstand kämpfte, berichtet:
„Dieser Tag, der 17. Januar, war der traurigste meines Lebens. Ich war den Tränen nahe, aber nicht aus Freude, sondern aus Kummer. [...] Wie konnten wir glücklich sein? Ich war ein gebrochener Mann! In all den schrecklichen und bitteren Jahren hatten wir uns nicht unterkriegen lassen, und jetzt ... übermannte uns die Schwäche. Jetzt durften wir plötzlich schwach sein [...]. Jeder Krieg ist einmal zu Ende. Wir hatten die ganze Zeit mit einem gewissen Sendungsbewusstsein gelebt. Aber jetzt? Es war vorbei! Wofür? Wofür? [...] Ich hatte nie geweint; sie hatten mich nie verzweifelt gesehen, kein einziges Mal; ich musste stark sein, aber am 17. Januar ... es ist nicht leicht, der letzte Mohikaner zu sein.“[7]
Josef Govrin wurde 1930 in Rumänien geboren. Er wurde in verschiedene Ghettos und Lager in Transnistrien deportiert. Josef wurde im Dezember 1944 von sowjetischen Soldaten befreit. Er erinnert sich:
„Die Zerstörung durch den Krieg und die Tatsache, dass ich eine Waise war, kamen mir am Tag des Sieges brutal zu Bewusstsein. Ich denke, ich sah die Verheerungen des Krieges viel realistischer als vorher. Die Zerstörungen hatten mich immer umgeben, Tag und Nacht, aber erst am Tag des Sieges nahm ich sie auf den Straßen, durch die ich ging, wahr. ... Damals, als Junge, erfasste ich den ganzen Umfang der Zerstörung. ... Und tatsächlich hat sich der Siegestag meinem Gedächtnis bis heute nicht als Freudentag eingeprägt!“.[8]
Eva Braun wurde 1927 in der Slowakei geboren. Im Zweiten Weltkrieg war sie Gefangene in Auschwitz-Birkenau. Sie wurde von amerikanischen Soldaten befreit. Eva erinnert sich:
„Man betete in all diesen Monaten um die Befreiung und dann wird es einem schlagartig bewusst – jetzt bist du frei. Nachdem ich begriffen hatte, dass ich frei war – ich spreche für mich – erkannte ich, dass ich die ganze Zeit gehofft hatte, ich würde meinen Vater wiedersehen und vielleicht, eine Hoffnung jenseits aller Hoffnungen, meine Mutter, obwohl ich wusste, dass es keine realistische Hoffnung war. Aber meinen Vater, ich war sicher, ich würde ihn treffen. Ich war hundertprozentig davon überzeugt. Aber es gab Zweifel, und ich erkannte, dass ich über die Tatsache nachdenken musste, was wäre, wenn nicht ... Freiheit ist relativ. Sehr sogar. Der Gedanke an die Zukunft lastete sehr schwer auf mir. Offenbar wussten wir, dass es nicht mehr unser Problem war, aber wir müssen immer noch selbst für unsere Zukunft sorgen, und wie würden wir diese Zukunft aufbauen?“[9]
[…]
Nach der Befreiung
[…]
Gegen Ende des Jahres 1945 wollten die Jüdinnen und Juden, die überlebt hatten, „nach Hause“. Viele entdeckten, dass sie kein zu Hause und keine Familie mehr hatten. Für andere wurde die Reise nach Hause im chaotischen Nachkriegseuropa ein gefährliches Unterfangen. Wem es gelang, die alte Heimat zu erreichen, der sah sich mit einer neuen Realität konfrontiert: vor allem in Osteuropa war die lokale Bevölkerung antisemitisch eingestellt und ließ die Jüdinnen und Juden spüren, dass ihre Heimkehr unerwünscht war.
Schoschana Stark berichtet:
„Ich ging nach Hause. Ich konnte ja nirgends bleiben ... Der Pförtner wohnte im Haus und wollte mich nicht hineinlassen ... Ich hatte auch Tanten und Familie. Ich ging zu allen ihren Wohnungen. In jeder lebten Nichtjuden. Sie ließen mich nicht hinein. Einmal sagte jemand sogar zu mir: ‚Wozu bist du überhaupt zurückgekommen? Sie haben dich mitgenommen, um dich umzubringen. Also, warum musstest du zurückkommen?‘ Da beschloss ich: Ich bleibe nicht hier. Ich gehe.“[12]
[…]
Schmuel Schulman Schilo wurde 1928 in Polen geboren. Er lebte im Ghetto Lutsk und wanderte 1946 in das vorstaatliche Israel ein. Er erinnert sich:
„Plötzlich stand ich mitten in der Stadt [...] und fragte mich: ‚Und was jetzt? Unser Haus – weg, Familie – weg, Kinder – weg, meine Freunde – weg, die Juden – weg.‘ Da und dort würde ich vielleicht einen Juden treffen, den ich kaum kannte. Dafür habe ich gekämpft? Dafür bin ich am Leben geblieben? Plötzlich erkannte ich, dass alle meine Anstrengungen sinnlos gewesen waren. Ich fühlte nicht, dass ich lebte.“[14]
[…]
Die DP Lager
In Erwartung der großen Flüchtlingskrise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA – United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gegründet. Nachdem sich herausstellte, dass die meisten jüdischen Überlebenden nicht mehr in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten, betreuten die Organisation die Überlebenden und organisierten Unterkünfte in Lagern in ganz Europa. Diese Lager sind als Displaced Persons (DP) Lager bekannt. Vor allem zu Beginn waren die Bedingungen in diesen Lagern äußerst schwierig. Viele der Lager waren ehemalige Konzentrationslager oder Kasernen der Wehrmacht. Die Überlebenden befanden sich immer noch hinter Stacheldrahtzäunen, ernährten sich immer noch von nicht ausreichenden Nahrungsmengen und litten immer noch an einem Mangel an Kleidung, medizinischer Versorgung und Vorräten. Die Sterblichkeitsrate blieb hoch. Aber den erbärmlichen physischen Bedingungen zum Trotz, engagierten sich die Überlebenden in kulturellen und sozialen Aktivitäten. Mehr als siebzig jüdische Zeitungen wurden herausgegeben. Theater und Orchester wurden gegründet. Pädagogische Institutionen wurden ins Leben gerufen. Gedenkprojekte wurden initiiert. Viele Überlebende suchten nach der Shoah einen neuen Sinn für ihr Leben.
[…]
Aber mehr als alles andere ersehnten die jüdischen Überlebenden zwischenmenschliche Beziehungen, um ihre Verzweiflung und Einsamkeit zu bannen. Viele der Überlebenden waren junge Männer und Frauen im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die ganz allein dastanden. Sie bildeten Paare und heirateten schnell. Ein Überlebender, der seine ganze Familie verloren hatte, hielt auf folgende Weise um die Hand einer anderen Überlebenden an:
„Ich bin allein. Ich habe niemanden. Ich habe alles verloren. Du bist allein. Du hast niemanden. Du hast alles verloren. Lass uns zusammen allein sein.“[16]
Die Überlebenden beeilten sich, Kinder in die Welt zu setzen und neue Familien zu gründen, als Symbol für die Zukunft – ihre eigene Zukunft und jene des jüdischen Volkes. 1946 wurden allein im DP Lager Bergen Belsen 555 Babys geboren.[17] Die Geburtenrate in den Lagern gehörte weltweit zu den höchsten.
Eliezer Adler wurde 1923 in der polnischen Stadt Belz geboren. Er verbrachte den Großteil des Zweiten Weltkrieges in Zwangsarbeitslagern in der Sowjetunion. Nach dem Krieg verbrachte er drei Jahre in DP Lagern. Er erinnert sich:
„... Das Thema der Rehabilitation der Sche’rit HaPletah (‚die übrig Gebliebenen‘, siehe Genesis 45,7), der Wunsch der Juden zu leben, ist unglaublich. Leute heirateten; sie nahmen eine Baracke und teilten sie in zehn winzige Zimmer für zehn Paare auf. Der Wunsch zu leben bewältigte alles – trotz allem lebe ich und ich lebe sogar intensiv.
Wenn ich heute auf diese drei Jahre in Deutschland zurückblicke, bin ich erstaunt. Wir nahmen Kinder und erzogen sie zu menschlichen Wesen, wir gaben eine Zeitung heraus; wir bliesen den Hauch des Lebens in diese Knochen. Die große Abrechnung mit der Shoah? Wer kümmerte sich darum ... man kannte die Realität, man wusste, dass man keine Familie hatte, dass man allein war, dass man etwas tun musste. Man war damit beschäftigt, Dinge zu tun. Ich erinnere mich, dass ich den jungen Leuten zu sagen pflegte: Vergesslichkeit ist eine gute Sache. Ein Mensch kann vergessen, denn wenn er nicht vergessen kann, ist er nicht fähig, ein neues Leben aufzubauen. Nach einer solchen Zerstörung ein neues Leben aufzubauen, zu heiraten, Kinder in die Welt zu setzen? In der Vergesslichkeit lag die Fähigkeit, neues Leben zu schaffen ... irgendwie war der Wunsch zu leben so stark, dass er uns alle am Leben hielt ...“[18]
[…]
Die Bericha: Auswanderung aus Europa
Die Überlebenden aus den europäischen DP Lagern konzentrierten ihre Anstrengungen auf die Auswanderung aus Europa, um anderenorts ein neues und produktives Leben aufzubauen. Obwohl viele die Hoffnung gehabt hatten, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, wurden sie durch den Antisemitismus und die Haltung der lokalen Bevölkerung zur Schlussfolgerung gezwungen, dass es in Europa keinen Platz mehr für Jüdinnen und Juden gab. Viele Insassen der DP Lager erklärten entschlossen ihre Absicht, nach Palästina auszuwandern. Die illegale Einwanderung der jüdischen Überlebenden aus Europa in das damalige Palästina wird „Bericha“ genannt, das hebräische Wort für „Flucht“. Damals stand Palästina unter dem Mandat der britischen Regierung. Bis Mai 1948, dem Gründungsdatum des Staates Israel, verfolgte diese eine äußerst restriktive Einwanderungspolitik. Viele jüdische Überlebende, die ins damalige Mandantsgebiet Palästina gelangen wollten, waren gezwungen, dieses auf illegale Weise zu erreichen.
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Ein Drittel der befreiten Überlebenden wanderte nicht nach Israel aus, sondern bevorzugte andere Länder. Sie emigrierten in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und in andere westliche Länder.
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Schlussgedanke
Die Geschichten von der Befreiung und die Ereignisse danach im Leben der Überlebenden der Shoah haben kein einfaches und glückliches Ende. Das Trauma, das die Opfer des nationalsozialistischen Regimes erlitten, war so groß, dass sie sich nie vollständig davon freimachen konnten. Auf die eine oder andere Weise begleitet es sie ihr ganzes Leben.
5. Anita Shapira und Irit Keynan: The Survivors of the Holocaust. Ursprünglich in: Return to Life: The Holocaust Survivors – From Liberation to Rehabilitation, Beit Hatfutsot (Diasporamuseum), Haus der Ghettokämpfer und Yad Vashem, Haifa 1995, S. 35–47.
6. Zerach Warhaftig: Uprooted. Institut für jüdische Angelegenheiten des amerikanischen jüdischen Kongresses und des Jüdischen Weltkongresses, New York 1946, S. 52.
7. Zeitzeugenbericht von Icchak Cukierman, aufgenommen im Rat der Vereinten Kibbuzbewegung am 9. bis 10. Mai 1947. Veröffentlicht in: Icchak Cukierman: The Exodus from Poland. Haus der Ghettokämpfer, Verlag der Vereinten Kibbuzbewegung, S. 13–16 (Hebräisch).
8. Yehudit Kleiman und Nina Springer-Aharoni: The Anguish of Liberation, Yad Vashem, Jerusalem 1995, S. 40.
9. A.a.O., S. 45.
12. Zeitzeugenbericht von Schoschana Stark, Yad Vashem Archiv 03/4337, S. 19 f. (Hebräisch).
14. Yad Vashem Archiv 0.3, V.T/135.
16. Michael Berenbaum: The World Must Know. Little, Brown und Company, Boston 1993, S. 208.
17. Hagit Lavsky: New Beginnings: Holocaust Survivors in Bergen-Belsen and the British Zone in Germany, 1945–1950. Wayne University State Press, Detroit 2002, S. 150.
18. Zeitzeugenbericht von Elieser Adler, Yad Vashem Archiv, 03/5426, S. 41 f. (Hebräisch).
zu Aufgabe 5a)
Quelle: Becker, Diehl, Siemens: Früherer SS-Mann Oskar Gröning ist tot. In: Spiegel, 12.03.2018. URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ehemaliger-ss-mann-groening-der-buchhalter-von-auschwitz-ist-tot-a-1197736.html
Früherer SS-Mann Oskar Gröning ist tot
Der frühere SS-Mann Oskar Gröning ist tot. Der Rentner war 2015 in einem aufsehenerregenden Prozess wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Der als „Buchhalter von Auschwitz“ bekannt gewordene frühere SS-Mann Oskar Gröning ist tot. Nach SPIEGEL-Informationen starb der 96-Jährige am Freitag in einem Krankenhaus. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Hannover sagte auf Anfrage: „Wir haben einen entsprechenden Schriftsatz des Anwalts von Herrn Gröning erhalten.“ Eine Sterbeurkunde liege seiner Behörde jedoch bislang nicht vor.
Das Landgericht Lüneburg hatte Gröning 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Im Dezember 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht dann, dass Gröning haftfähig sei und seine Strafe antreten müsse. Eine Beschwerde aus Gesundheitsgründen wies Karlsruhe ab.
Die Staatsanwaltschaft Hannover hatte angekündigt, ihm zeitnah eine Ladung zum Strafantritt zu schicken. Gröning hatte daraufhin ein Gnadengesuch an die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) gerichtet.
Zeitenwende im Umgang mit dem Holocaust
Grönings Fall war besonders in der deutschen Rechtsgeschichte, weil er eine Zeitenwende im Umgang mit den Verbrechen des Holocausts markierte. Über Jahrzehnte hatten die Behörden nur diejenigen verfolgt, die zur Leitung der Konzentrationslager gehört oder selbst gemordet hatten oder durch besondere Grausamkeit aufgefallen waren, sogenannte Exzesstäter. Von den 6.500 SS-Leuten des Vernichtungslagers Auschwitz, die den Krieg überlebt hatten, wurden in der Bundesrepublik gerade 29 verurteilt; in der DDR waren es rund 20.
Noch im Mai 1985 hatte die Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main das Ermittlungsverfahren gegen Gröning und Dutzende weitere Männer aus der Häftlingsgeldverwaltung des Konzentrationslagers Auschwitz eingestellt. Es fehle ein „hinreichender Tatverdacht“, schrieb ein Oberstaatsanwalt damals. Gröning könne keine Beihilfe zum Mord vorgeworfen werden, weil „die Kausalität seiner Tätigkeit für den Erfolg der Vernichtungsaktion nicht gegeben“ gewesen sei, hieß es später. Die Staatsanwaltschaft in Hannover sah den Fall anders und klagte Gröning im August 2014 erfolgreich an.
Gröning selbst hatte sich zu seiner Vergangenheit immer bekannt – auch in diversen Vernehmungen. Er war einer der wenigen ehemaligen KZ-Wachleute, die öffentlich mit ihrer moralischen Verantwortung rangen.
Gröning begann, über seine Vergangenheit zu sprechen, um Holocaustleugner zu widerlegen. Seine Aufzeichnungen, mit denen er mitteilen wollte, was er getan hatte und was nicht, sollten anderen die Augen öffnen. Später waren sie rechtlich von Bedeutung. Die Ermittler schlossen daraus, dass Gröning vom Massenmord in Auschwitz gewusst und trotzdem mitgemacht hatte. Er habe mit seinem Dienst in der Verwaltung und auf der Rampe, hieß es im Urteil gegen ihn, den reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschinerie gewährleistet.
Gröning tat sich mit seiner juristischen Schuld hingegen immer schwer. Er sah sich nicht als Täter, sondern als Mitläufer, als unbedeutendes Rädchen im Getriebe einer Mordmaschinerie. Dem SPIEGEL sagte Gröning vor vielen Jahren: „Ich fühle mich schuldig gegenüber dem Volk der Juden, in einer Truppe gewesen zu sein, die diese Verbrechen begangen hat, ohne dass ich dabei Täter war. Das jüdische Volk bitte ich um Verzeihung. Und den Herrgott bitte ich um Vergebung.“
zu Aufgabe 5b)
Quelle: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Die Nürnberger Prozesse. URL: https://www.lpb-bw.de/nuernberger-prozesse#c23386
Bedeutung von Nürnberg
Die Alliierten zeigten mit den Prozessen, dass sie nicht dem deutschen Volk als Kollektiv die Schuld für die grausamen Verbrechen Nazi-Deutschlands zuschrieben, sondern einzelnen Handelnden. Außerdem wollten sie den gerade erst von einer Diktatur befreiten Deutschen anhand eines fairen Gerichtsprozesses vor Augen führen, wie Demokratie und Rechtsstaat funktionieren.
Das Konzept der US-amerikanischen Anklagevertretung sah vor, den Prozess als „Dokumentenprozess“ zu führen. Neben der amtlichen Aktenüberlieferung spielten in dem Verfahren auch filmische Beweismittel eine große Rolle. Alle Siegermächte hatten beim militärischen Vormarsch eigene Filmteams damit beauftragt, die Zustände in den Konzentrations- und Vernichtungslagern für die juristische Aufarbeitung festzuhalten.
Der Einzelne war verantwortlich
Ein Novum in der Anklage bei den Nürnberger Prozessen war es, nicht nur einen Staat, sondern auch Einzelpersonen für den Bruch des geltenden Völkerrechts verantwortlich zu machen, so zum Beispiel im Fall von Angriffskriegen. Auch Kriegsverbrechen waren eindeutig definiert.
Noch nie zuvor hatte es ein derartiges internationales Gericht wie das Internationale Militärtribunal für die Bestrafung von Kriegsverbrechern gegeben. Ausschlaggebend war das große Ausmaß der Grausamkeiten, das durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangen worden war.
Gräueltaten der Nationalsozialisten aufgedeckt
Die Nürnberger Prozesse waren Bestandteil des US-amerikanischen Programms der Reeducation. Sie sollten der deutschen Bevölkerung die Augen über das Nazi-Regime und seine einzigartigen Verbrechen öffnen. Damit waren die Prozesse jedoch überfordert, wie sich angesichts der ambivalenten Wirkung in Deutschland zeigte. Dennoch fand im Nürnberger Gerichtssaal die erste große und öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und somit geschichtliche Aufklärungsarbeit statt.
Im Laufe der Prozesse bekam das deutsche Volk gnadenlos das ganze Ausmaß von Hitlers Wahn und dessen schreckliche Folgen gezeigt. Viele Deutsche sagten später, sie hätten erst während des Nürnberger Prozesses von den Gräueltaten an den Juden und anderen Minderheiten erfahren. Das Medieninteresse an den Prozessen war ungeheuer groß. Journalisten aus aller Welt wohnten den Gerichtsverfahren im Justizpalast in Nürnberg bei. Die Bilder der Hauptangeklagten auf der Anklagebank gingen um die Welt.
Meilenstein im Völkerrecht
Mit dem Statut für den Militärgerichtshof war ein Präzedenzfall für die Bestrafung von Kriegsverbrechen geschaffen worden. Die im Statut festgelegten Rechtsgrundsätze gelten als ein Meilenstein für die Entwicklung des Völkerstrafrechts, das Individuen für staatliches Handeln strafrechtlich verantwortlich macht.
Kritik am Prozess
Im Prozess versuchten die deutschen Verteidiger immer wieder, auch Kriegsverbrechen der Alliierten zum Thema zu machen, so zum Beispiel die Bombardierung von Städten, der Abwurf der Atombomben auf Japan oder die Ermordung von 4.000 polnischen Offizieren durch die sowjetische Armee bei Katyn.
Im Zentrum der Kritik an den Nürnberger Prozessen standen aber vor allem zwei Aspekte. Zum einen der Vorwurf der fehlenden Legitimation: Da die Entscheidung zu einem solchen Prozess ausschließlich in den Händen der alliierten Siegermächte gelegen hatte, empfanden dies viele Deutsche als ungerecht. Aus ihrer Sicht hätte die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen in die Hände der eigenen Justiz gehört. Zum andern der Vorwurf der mangelnden Rechtmäßigkeit: Er bezog sich vor allem auf die anglo-amerikanischen Rechtstraditionen, die den Prozessen zugrunde lagen. Kritiker sprachen immer wieder von einer unfairen Benachteiligung der Angeklagten und ihrer Verteidiger.
Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den Prozessen nahm auch die Kritik zu. Immer mehr wurde das gesamte Spektrum der alliierten Sanktionen in einen Topf geworfen und als „Siegerjustiz“ kritisiert. Man sprach nun von inszenierten „Stellvertreterprozessen“, in denen es nur vordergründig um die Schuld Einzelner gehe, hintergründig aber um den Beweis einer „Kollektivschuld“ der Deutschen. Eine Schlüsselposition bei dieser Bewertung nahmen gerade diejenigen gesellschaftlichen Eliten ein, an die sich das alliierte Programm „Umerziehung durch Recht“ richtete. Unter anderem die beiden christlichen Kirchen agitierten gegen Entnazifizierung und Strafverfolgung. Teilweise wurde sogar zum passiven Widerstand gegen die Entnazifizierung aufgerufen.
Amnestiepolitik unter Adenauer
Wie bedeutend die Nürnberger Prozesse für die junge Bundesrepublik waren, zeigt die Tatsache, dass der frisch gewählte erste Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung am 20. September 1949 ankündigte, sich für eine Amnestie der in Landsberg einsitzenden Häftlinge einsetzen zu wollen. Für so manche „Verfehlung“, so Adenauer, müsse man Verständnis aufbringen. Auch die Sozialdemokraten und die FDP unterstützten ihn dabei. Offenbar wollte man damit im sich verschärfenden Kalten Krieg testen, wie ernst es den Amerikanern mit ihrem Angebot zu Partnerschaft und politischer Selbstbestimmung der Bundesdeutschen war.
In der Tat wurden im August 1950 und im Januar 1951 aufgrund des Drängens der Amnestie-Lobby zahlreiche in Nürnberg Verurteilte freigelassen, deren Strafen herabgesetzt oder Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt. Die letzten vier „Landsberger“ kamen im Mai 1958 auf freien Fuß. Vor allem in Frankreich und Großbritannien stieß diese Amnestiepolitik auf scharfe Kritik. In der Bundesrepublik kam die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen erst mit dem sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess und mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen 1957/58 wieder auf die öffentliche Agenda.
Anhang
Weiterführende Angebote und MaterialienEbbrecht-Hartmann, Tobias: Filmische Nachbildungen des Holocaust im Unterricht. Einige Überlegungen zur Beschäftigung mit der Geschichte der Shoah im Film. URL: https://www.yadvashem.org/de/education/educational-materials/seminar-materials/the-holocaust-in-films.html
Fritz Bauer Institut: Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses. URL: www.auschwitz-prozess.de
Hillberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Bundeszentrale für politische Bildung 2024
Huberman, Didi: Bilder trotz allem. Brillfink Verlag 2007
Knoch, Habbo: Die Tat als Bild – Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburger Edition 2001
Lepper, Anne: Night will fall – ein Lehrfilm für die Deutschen. URL: https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/12569.
Modiano, Sami: Von Rhodos nach Auschwitz. Metropol Verlag 2023
NDR: Für das Leben lernen: Auschwitz und ich (2015). URL: https://www.ndr.de/geschichte/auschwitz_und_ich/Auschwitz-und-Ich,startseite173.html
Springer-Aharoni, Nina: Fotografien als historische Dokumente. In: Gutman, Israel (Hg.): Das Auschwitz-Album, Geschichte eines Transports. Yad Vashem 2002, Wallstein 2005
Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau: www.auschwitz.org
Steinbacher, Sybille: Auschwitz – Geschichte und Nachgeschichte. C.H.Beck 2020
United States Holocaust Memorial Museum Collection: Oral history interview with Irene Hizme and Rene Slotkin. URL: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn504815
1. Zitat aus: Night will fall – Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen. Spring Films Ltd./Angel TV Ltd./MDR/NDR/arte 2014. Timecode: 31:00. URL: https://www.youtube.com/watch?v=Zkuf3lXmopA, abgerufen am 24.01.2025
2. Ebd.
3. Buiso, Gary: Surviving Nazis’ Angel of Death Auschwitz experiments. In: New York Post, 01.09.2013. Übersetzung durch Autorin.
4. https://www.unicampus.it/en/news/Sami-Modiano-receives-an-honorary-doctorate-in-medicine-from-the-Campus-Bio-Medico-University-of-Rome/, abgerufen am 24.01.2025. Übersetzung durch Autorin.
Eva Hasel studierte Medienwissenschaften und Rhetorik. Sie arbeitet als freie Autorin und Konzepterin in der Holocaustforschung und -vermittlung, u.a. für die Gedenkstätten Flossenbürg und Lichtenburg, die Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Bundeszentrale für politische Bildung, Stiftung EVZ, Universität Haifa und das Humanitarian Law Center Belgrad.

[Bild: privat]