Vergiftete Worte
Victor Klemperers LTI und die Sprache der AfD
Medienradar
Der Literaturwissenschaftler und Romanist Victor Klemperer (1881–1960) dokumentierte und analysierte in seinem Werk LTI. Notizbuch eines Philologen die Sprache der Nationalsozialisten. Die drei Buchstaben des Titels stehen für „Lingua Tertii Imperii“, also „Sprache des Dritten Reiches“. Als das Buch 1947 erschien, war es eine Sensation, heute gilt Klemperer als „sprachkritischer Klassiker“ (Detering 2024), dessen Werk immer noch Neuauflagen erfährt. Der Zeitzeuge Klemperer mischte in LTI Autobiografisches mit Sprachanalytischem, er machte an Alltagsbeobachtungen transparent, wie einer (propagandistisch initiierten) Manipulation von Sprache die Manipulation durch Sprache folgt.[1] In Anbetracht eines zunehmenden Rechtspopulismus, angesichts eines Erstarkens der AfD und antidemokratischer Ideologien weltweit ist Victor Klemperers Buch heute aktueller denn je. Oder?
Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.
Victor Klemperer, LTI (2001, S. 21)
Sprache ist überall. Jede Minute, jede Sekunde wird auf der Welt gesprochen, geschrieben, in Wörtern gedacht, gefühlt und gelebt. Sprache folgt dabei Regeln, die es zu beachten gilt, wenn man verstanden werden will. Doch ist sie kein starres Gerüst, sondern durchaus flexibel und anpassungsfähig. Immer wieder verändert sie sich, ist geprägt von dem Leben der Menschen, die sich ihrer bedienen. Werden Worte nicht mehr benutzt, geraten sie in Vergessenheit. So zum Beispiel dann, wenn sie Dinge bezeichnen, die keine Verwendung mehr haben. Neue Worte kommen hinzu, weil Neues auch benannt werden will. Sprache ist menschengemacht – und wirkt auf den Menschen zurück. Sie prägt Gesellschaften – und Gesellschaften prägen sie. Jede Zeit hat ihre eigene Sprache.
Victor Klemperer: Tagebuchschreiben als Halt
Victor Klemperer hat sich in seinem Buch LTI mit der Sprache des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Wegen seiner jüdischen Herkunft in der NS-Zeit mit Berufsverbot belegt und seiner Identität als Gelehrter beraubt, widmete er sich umso intensiver dem Tagebuch und notierte das Leben um ihn herum mit viel Akribie. Alltagserlebnisse, Reden der Mächtigen im Radio, Gespräche mit Nachbarn, Artikel in Zeitungen, die seine Frau heimlich ins Haus schmuggelte, Begegnungen auf der Straße und in der Fabrik, in der er arbeiten musste – all das floss in seine Betrachtungen ein:
Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischer Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht
(Klemperer 2001, S. 19f.).
Das Tagebuch war Klemperers Rettung, es half ihm, seine „innere Freiheit zu bewahren“ (ebd., S. 20). In den Zeiten von Drangsal, Entbehrung und Erniedrigung hielt er sich an der Sprache fest – an seiner eigenen, indem er das Grauen um ihn herum in seinen Worten notierte, aber auch an der Sprache der Mächtigen, die er ins Zentrum seiner Untersuchung stellte. Klemperer war dabei ganz nah an seinem Objekt:
Ich ließ mich damals nicht irremachen, ich stand jeden Morgen um halb vier auf und hatte den vorigen Tag notiert, wenn die Fabrikarbeit begann. Ich sagte mir: du hörst mit deinen Ohren, und du hörst in den Alltag, gerade in den Alltag, in das Gewöhnliche und das Durchschnittliche, in das glanzlose Unheroische herein…
(Ebd., S. 363)
Klemperers Tagebuchaufzeichnungen bilden die Grundlage für sein Werk LTI, das offenlegt, wie die nationalsozialistische Propaganda die Menschen immer weiter manipulierte. Diese Manipulation gelang vor allem über die Sprache:
[…] die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden.
(Ebd., S. 26)
Die dazu passende NS-Strategie hatte Joseph Goebbels schon 1934 auf dem „Parteitag der Treue“ formuliert: „Wir müssen die Sprache sprechen, die das Volk versteht. Wer zum Volke reden will, muß, wie Martin Luther sagt, dem Volke aufs Maul sehen.“ (Zitiert nach: ebd., S. 297)

[Bild: Deutschlandfunk Kultur]
Titelbild zum Podcast Die Geschichte geht weiter - Victor Klemperers Tagebücher 1918-1959, Deutschlandfunk Kultur 2024.
Victor Klemperer hat in seinen Tagebüchern die großen Umbrüche notiert – von der Weimarer Republik über die Nazizeit bis zum ersten Jahrzehnt der DDR. Host und Historikerin Leonie Schöler nimmt uns mit in die Welt eines deutschen Zeitzeugen.
Die AfD und LTI
Eine Neubesetzung von Begriffen, ständige Wiederholungen von Stereotypen, Klischees und Parolen – so verankerten die Nationalsozialisten ihr Gedankengut schleichend in der Gesellschaft. Die nazistische Sprache
ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.
(Ebd., S. 27)
So formulierte es Victor Klemperer über die Nazizeit.
Und heute? In einer kaum beachteten Rede aus dem Jahr 2018 in Eisleben rief der AfD-Politiker Björn Höcke seinen jubelnden Anhängern zu:
Wer die Begriffe prägt, der prägt die Sprache. Wer die Sprache prägt, der prägt das Denken. Wer das Denken prägt, der prägt den politischen Diskurs. Und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik, egal ob er in der Opposition ist oder in der Regierung.
(Zitiert nach: Kraske/Laabs 2024, S. 20)
Im Folgenden soll an verschiedenen Beispielen aufgezeigt werden, ob und, wenn ja, wie diese Strategie umgesetzt wird. Dabei werden gedankliche Linien zu Klemperers LTI gezogen. Die Ausführungen haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Geschichtsrevisionismus
Verdrehte Wahrheiten, absichtlich umgedeutete Tatsachen oder das, was wir heute Fake News nennen, sind keine neuen Phänomene, die durch Social Media entstanden sind. Hier ein Beispiel aus Klemperers Notizen:
Ich habe die Türklinke schon in der Hand, da ruft er mich zurück: ‚Jetzt wird zu Haus für den jüdischen Sieg gebetet, nicht? – Glotz mich nicht so an, antworte auch gar nicht, ich weiß, daß du’s tust. Es ist ja euer Krieg – was, du schüttelst den Kopf? Mit wem führen wir denn Krieg? Mach’s Maul auf, wenn du gefragt wirst, willst ja Professor sein.‘ – ‚Mit England, Frankreich und Rußland, mit…‘ – ‚Nu hör schon auf, das ist alles Quatsch. Mit dem Juden führen wir Krieg, der jüdische Krieg ist es. […] Es ist der jüdische Krieg, der Führer hat’s gesagt, und der Führer hat immer recht… ’raus!‘
(Klemperer 2001, S. 221)
Wenn die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel als Kanzlerkandidatin ihrer Partei im Bundestagswahlkampf 2025 davon spricht, Adolf Hitler sei gar nicht „rechts und konservativ“, sondern „dieser sozialistisch-kommunistische Typ“ gewesen (09.01.2025)[2], spielt sie nicht nur mit der vorhersehbaren Empörung, sondern versucht durch eine Falschbehauptung, deutsche Geschichte zugunsten der AfD umzudeuten. Ähnlich verhält es sich mit Alexander Gaulands oft zitiertem Satz, Hitler und die Nazis seien „nur ein Vogelschiss in unserer über 1.000-jährigen Geschichte“ gewesen (02.06.2018)[3]. Auch wenn der damalige AfD-Vorsitzende angesichts der heftigen Kritik seine Aussage schnell relativierte: Es bleibt ein Versuch, die Schrecken der NS-Zeit zu verharmlosen und auszutesten, wie weit man gehen kann.
Ansprache der Jugend
Die Macht der Worte und das Potenzial ihrer Wirkung auf die Gesellschaft haben Vertreterinnen und Vertreter von AfD und auch der Neuen Rechten längst erkannt. Ihr Repertoire ist darauf abgestimmt – und bietet Angebote für unterschiedlichste Bedürfnisse. Allen voran wird auch die Jugend gezielt angesprochen, zum Beispiel von dem AfD-Politiker Maximilian Krah, der auf seinem TikTok-Kanal Werbung für seine rechte Gesinnung mit einem Flirt-Tipp kombiniert: „Echte Männer sind rechts. Echte Männer haben Ideale. Echte Männer sind Patrioten. Dann klappt’s auch mit der Freundin.“ (19.06.2023)[4]
Victor Klemperer beschrieb ebenfalls eine besondere Ansprache der Jugend durch die NS-Propaganda, auch wenn die inszenierten Botschaften damals nicht über Social Media, sondern über andere Medien „gesendet“ wurden:
Wenn der junge Mensch sein Heldenbild nicht von den muskelbeladenen nackten oder in SA-Uniform steckenden Kriegergestalten der Plakate und Denkmünzen dieser Tage abnimmt, dann gewiß von den Rennfahrern; gemeinsam ist beiden Heldenverkörperungen der starre Blick, in dem sich vorwärtsgerichtete harte Entschlossenheit und Eroberungswille ausdrücken.
(Ebd., S. 13)
Sprache, zerlegt in ihre Einzelteile
Sprache bezeichnet die Gesamtheit vieler einzelner Teile: Aus Buchstaben werden Worte, aus Worten Sätze, daraus Reden, Texte, Literatur… Auf den ersten Blick tritt das einzelne Wort in der Gesamtheit eines Textes zurück. Doch bei genauerem Hinsehen sind es gerade die einzelnen Wörter, in denen sich Zeit und Gesellschaft spiegeln. So formulierte Klemperer:
[…] unter dem Einzelwort erschließt sich dem Blick das Denken einer Epoche, das Allgemeindenken, worein der Gedanke des Individuums eingebettet, wovon er beeinflußt, vielleicht geleitet ist.
(Ebd., S. 191)
Deshalb lohnt es, der Spur einzelner Wörter von damals ins Heute zu folgen.
Sprechen AfD-Politikerinnen und -Politiker oder die Neuen Rechten von „Systemparteien“ und „Systempolitikern“, meinen sie damit die etablierten Parteien und deren Vertreter. Mit dieser diskreditierenden Wortwahl grenzen sie sich von den anderen Parteien ab und definieren sich selbst im Gegensatz dazu positiv als frei im Denken und Handeln. Gleichzeitig aber beschreiben sie sich als Opfer des politischen Mainstreams, da sie vom „System“ ausgeschlossen bleiben. Entweder Ablehnung des „Systems“ oder Anprangern des Ausgegrenztseins – eine dieser Strategien verfängt immer, will man Aufmerksamkeit erzeugen.
Auch Klemperer beschrieb die feindselige Haltung der Nationalsozialisten gegen die Weimarer Republik, die sich ebenfalls in dem Begriff „System“ offenbarte. Doch er näherte sich der Ablehnung des „Weimarer Systems“ durch die NSDAP auch „sprachgedanklich“:
[…] für Kant […] heißt philosophieren: systematisch denken. Gerade das aber ist es, was der Nationalsozialist aus dem Innersten seines Wesens heraus ablehnen, was er aus dem Trieb der Selbsterhaltung verabscheuen muß. Wer denkt, will nicht überredet, sondern überzeugt sein; wer systematisch denkt, ist doppelt schwer zu überzeugen. […] Wenn aber ‚System‘ verpönt ist, wie nennt sich dann das Regierungssystem der Nazis selber?
(Ebd., S. 128f.)
Die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, die anlässlich der Einstufung der AfD als „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz 2021[5] zur Sprache der Partei befragt wurde, erklärte – auch mit Verweis auf Victor Klemperers LTI:
Ich habe selbst keinen Zweifel daran, dass die AfD ziemlich ausgeprägte rechtsextreme Tendenzen hat. Das merkt man auch an ihrer Sprache. Wer von ‚Systemparteien‘ spricht, der zweifelt ja an, dass dieses System weiterhin Bestand haben sollte, und wirft diesen Parteien einfach vor, sie würden dieses System stützen. Und das ist die Sprache, die die NSDAP in den 20er-Jahren gehabt hat. Wenn Sie beispielsweise das […] Buch ‚LTI‘ […] lesen, dann finden Sie ganz vieles wieder an Redewendungen, an bestimmten sprachlichen Äußerungen, die sich so auch bei der AfD wiederfinden. Und dann können Sie einfach nicht bestreiten, dass […] die Partei auf diesem Weg ist.
(Münkler 2021)
Diese Einschätzung teilt auch der Soziologe Andreas Kemper, der sich schon länger intensiv mit der AfD beschäftigt. Er äußerte sich im Zusammenhang mit dem Strafgerichtsprozess[6] gegen Björn Höcke, der auf zwei AfD-Kundgebungen den SA-Slogan „Alles für Deutschland“ verwendet hatte:
Es geht hier nicht nur um eine Parole, es geht nicht nur um einen Satz, sondern es geht um NS-Rhetorik, die Höcke, seit er in die AfD eingetreten ist, systematisch benutzt. […] Es geht als Strategie darum, die NS-Sprache wieder sprechbar zu machen.
(Kemper 2024)
Zu einem ähnlichen Urteil kommt der Literaturwissenschaftler Torsten Hoffmann, der sich in einem DFG-Projekt mit der „Neurechten Literaturpolitik“ auseinandersetzt. Hoffmann weist auf das bestehende Netzwerk zwischen den Neuen Rechten und der AfD hin und zieht eine Zwischenbilanz: „„Es geht ihr [der Neuen Rechten, Anm. d. Autorin] nicht primär um kurzfristige Wahlerfolge, sondern um eine Verschiebung dessen, was sagbar, denkbar und machbar ist.“ (Hoffmann, zitiert nach: Roth 2025) Nach seiner Analyse wird nicht nur Literatur mit rechtem Gedankengut ins Zentrum gerückt, sondern über das Besprechen literarischer Klassiker und ideologiefremder Werke in Podcasts oder auf YouTube versucht, „als Player im Literaturbetrieb ernstgenommen zu werden.“ (Hoffmann 2025) Das habe auch Folgen für den Bildungsbetrieb, denn Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sei oftmals gar nicht mehr bewusst, von wem das recherchierte Material stamme (ebd.).
Andreas Kemper zitiert im Interview noch weitere Beispiele für Begriffe aus dem NSDAP-Sprachgebrauch, die von der AfD, speziell von Björn Höcke, des Öfteren verwendet worden sind, so zum Beispiel „Volksverderber“ oder „Volksgemeinschaft“ (Kemper 2024).
Auch Victor Klemperer ging in seiner Analyse der LTI immer wieder auf Begrifflichkeiten dieser Art ein. So notierte er beispielsweise:
‚Volk‘ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt…
(Klemperer 2001, S. 45)
Wer „Volk“ als gesellschaftsbildendes „Wir“ einsetzt, braucht immer auch ein Gegenüber, einen, der anders ist und nicht dazugehört – ein Feindbild, an dem sich all das festmachen lässt, was das gesellschaftliche Leben vermeintlich stören könnte.
Basis der NS-Ideologie war der Antisemitismus, Klemperer stellte ironisch fest: „Der Jude ist der wichtigste Mann in Hitlers Staat“ (ebd., S. 225). Mit dem Adjektiv „jüdisch“
läßt sich jene Klammer bewirken, die alle Gegner zu einem einzigen Feind zusammenbindet: die jüdisch-marxistische Weltanschauung, die jüdisch-bolschewistische Kulturlosigkeit, das jüdisch-kapitalistische Ausbeutungssystem, die jüdisch-englische, die jüdisch-amerikanische Interessiertheit an Deutschlands Vernichtung
(ebd., S. 226).
Solch einer Sicht auf die Welt sind die einfachen Problemlösungen inhärent, denn die, die nicht „Wir“ sind, sind die Fremden, und die, die eine andere Meinung haben, „die anderen“, die Feinde: „Wenn DIE nicht wären, könnten wir alle sitzen bleiben und weitermachen wie bisher. Die hingegen, die nicht dazugehören, werden zu Sündenböcken – sie haben aufzustehen, sie müssen gehen.“ (Haid 2024, H.i.O.)
Beispiel „Remigration“ – Manipulation von und mit Sprache heute
Auch AfD und Neue Rechte definieren ein „Wir“ – und auch das braucht zur Abgrenzung und für das eigene Selbstverständnis „die anderen“, die nicht dazugehören. „Ausländer raus“ wird skandiert – und mit dem Wort „Remigration“ eine (einfache) Lösung für vermeintliche Probleme versprochen. Doch was heißt „Remigration“ eigentlich?
Das Wort ist abgeleitet von dem lateinischen Verb „remigrare“, was „zurückkehren“, „zurückwandern“ bedeutet. So nannte man zum Beispiel diejenigen, die nach 1945 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrten, treffend „Remigranten“. Heute werden unter dem Motto „Remigration“ Abschiebungen und die massenhafte Zwangsausweisung von Menschen mit Migrationsgeschichte gefordert. Das Wort „Remigration“ verhüllt, dass „Deportation“ gemeint ist – ein Euphemismus. „Remigration“ wurde zum „Unwort des Jahres 2023“ gewählt, Jury-Sprecherin Constanze Spieß erläuterte, warum: Man kann
nicht zurückgewandert oder zurückgekehrt werden. Hier findet eine Umfunktionalisierung der Grammatik statt, und das schlägt sich auch auf die Bedeutung nieder. […] Die Neue Rechte zielt ja mit dem Wortgebrauch darauf ab, in gewisser Weise kulturelle Hegemonie und ethnische Homogenität zu erlangen. Das, was mit der Verwendung des Wortes gefordert wird, verletzt die freiheitlichen und bürgerlichen Grundrechte von Menschen mit Migrationsgeschichte. […] Das sickert in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, und dadurch verschiebt sich der migrationspolitische Diskurs in Richtung einer Normalisierung von rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen.
(Spieß, zitiert nach: Schramm 2024, H.d.V.)
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist einer der zentralen Pfeiler der demokratischen Verfassung und damit des politischen Diskurses und des gesellschaftlichen Miteinanders. Doch wie umgehen mit demokratiefeindlichen Äußerungen, mit Äußerungen, die nicht nach Wahrheit streben, sondern nach größtmöglicher Aufmerksamkeit und Empörung? Die scheinbar einfache Lösungen für komplexe Zusammenhänge versprechen und dabei bewusst das oberste und absolute Grundrecht auf Menschenwürde missachten? Gemeint sind Äußerungen, die zum Beispiel mit der Angst vor Fremdem spielen und darüber den Hass gegen „die anderen“ schüren. – Die Situation scheint paradox: AfD-Politikerinnen und -Politiker wettern gegen die Demokratie, stellen sie in ihren Grundfesten infrage, prangern aber gleichzeitig Kritik an der eigenen Demokratiefeindlichkeit als Einschränkung und Ausgrenzung an.[7]
Wer den demokratischen Diskurs will, sollte auch nach demokratischen Regeln und Prinzipien handeln. Ein wesentliches Prinzip hat die mittlerweile 103-jährige Holocaustüberlebende Margot Friedländer eindrucksvoll auf den Punkt gebracht: „Für meine Botschaft brauche ich nicht viele Worte. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir sind alle gleich. Seid Menschen.“ (Friedländer 2025)
Ausblick
2025 ist nicht 1933. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat und keine Diktatur. Jede und jeder kann seine Meinung frei vertreten. Das war von 1933 bis 1945 nicht möglich, wer anders dachte, als vom NS-Regime vorgeschrieben, wurde verfolgt und musste sein (vermeintliches) Anderssein oft mit dem Leben bezahlen. Victor Klemperer präsentiert uns in LTI die Sicht derjenigen, die vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren, um für alles schuldig gemacht werden zu können. Er zeigt, wie schleichend sich rechtsextremes Gedankengut in einer Gesellschaft ausbreitet, wie es – einem Ölteppich gleich – langsam alles durchdringt, die Sprache, das Denken und schließlich auch das Handeln des Einzelnen.
Es gilt, wachsam zu sein, Fragen zu stellen, Hintergründe zu analysieren, Fakten zu checken, sprachliche Verrohung als solche zu benennen und vor allem genau hinzuhören. Denn eins stimmt damals wie heute: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (Klemperer 2001, S. 27)
Biografie Victor Klemperer (1881–1960)
Victor Klemperer, Sohn eines Rabbiners, war von 1920 bis 1933 Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden, 1935 erhielt er wegen seiner jüdischen Herkunft Berufsverbot. Kurz darauf verweigerte man ihm den Zugang zu öffentlichen Bibliotheken, die meisten Bücher aus seinem Privatbesitz wurden ihm abgenommen, auch durfte er keine Literatur und Zeitungen mehr kaufen. Er verlor sein Haus, musste mit seiner Frau in ein sogenanntes „Judenhaus“ ziehen und in einer Fabrik arbeiten. Doch noch herabwürdigender als all das war für Klemperer das Tragen des Judensterns, das im September 1941 offiziell angeordnet wurde. Klemperer notierte:
(Klemperer 2001, S. 215f.) Klemperer verlor Freunde, Nachbarn und Kollegen – manche aus ideologischen Gründen, andere aus Angst, viele aber wurden deportiert und starben in den Konzentrationslagern. Klemperer selbst überlebte, denn seine nicht jüdische Ehefrau blieb an seiner Seite. Im NS-Jargon hieß das „privilegierte Mischehe“. Nach dem verheerenden Bombenangriff auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 konnte das Ehepaar Klemperer aus der Stadt fliehen. Das Kriegsende erlebten sie unter falscher Identität in einem Versteck. Später kehrten sie nach Dresden zurück, Victor Klemperer trat seine Professur wieder an und lehrte auch in Greifswald und Halle. |
1. Vgl.: Lewandowski 1994, S. 1.036
2. Zitiert nach: Wesolowski/Klug 2025
3. Zitiert nach: Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. In: Webseite der AfD-Bundestagsfraktion, 02.06.2018. Abrufbar unter: https://afdbundestag.de/wortlaut-der-umstrittenen-passage-der-rede-von-alexander-gauland/ (letzter Zugriff: 06.04.2025)
4. Zitiert nach: Junge Männer brauchen Ideale. In: Maximilian Krah auf TikTok, 19.06.2023. Abrufbar unter: https://www.tiktok.com/@maximilian_krah/video/7246324156394933530?lang=de-DE (letzter Zugriff: 06.04.2025)
5. Nach jahrelangem Rechtsstreit hat das Oberverwaltungsgericht Münster die Einstufung der AfD als „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ durch den Verfassungsschutz am 13.05.2024 erneut bestätigt.
6. In beiden Fällen verurteilte das Landgericht Halle Björn Höcke zu einer Geldstrafe. Höckes Anwälte haben Revision gegen das Urteil eingelegt. Der Fall wurde an den Bundesgerichtshof verwiesen.
7. In diesem Zusammenhang sei auf das „Paradoxon der Toleranz“ nach Karl Popper hingewiesen. Der Philosoph beschrieb in seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde aus dem Jahr 1945 das Dilemma, in das tolerante offene Gesellschaften immer wieder dann geraten, wenn sie sich tolerant gegenüber Intoleranz zeigen: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ (Popper 1992, S. 333) Diese Feststellung, die von den Toleranten manchmal Intoleranz fordert, um die eigene Toleranz zu schützen, ist an keine Epoche gebunden, sie ist zeitlos und auch heute von höchster Aktualität.
Literatur:
Detering, H.: Die Sprache des „Dritten Reiches“ und die Sprache der Rechten heute. Vortrag. In: Veranstaltungsreihe Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Veranstaltet vom Bildungswerk ver.di in Kooperation mit dem Jungen Theater Göttingen. Göttingen, 19.11.2024. Abrufbar unter: https://gedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus.de/november-2024#19_11_2024 (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Friedländer, M.: Worte anlässlich der Verleihung des „Sonderpreises des Internationalen Preises des Westfälischen Friedens“. Münster, 04.04.2025. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/margot-friedlaender-mit-friedenspreis-geehrt-ihre-bewegenden-worte-im-video-a-300b47e0-585f-403c-b9fd-a9e8b522485b (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Haid, J.: Victor Klemperer: LTI. Ist „Nie wieder!“ wirklich jetzt? In: Deutschlandfunk, 21.07.2024. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/ist-nie-wieder-wirklich-jetzt-100.html (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Hoffmann, T.: Literaturpolitik. Wie die „Neue Rechte“ Literatur für sich nutzt. Torsten Hoffmann im Gespräch. In: Studio 9 [Podcast]. Deutschlandfunk Kultur, 24.03.2025. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/neue-rechte-rechtsextremismus-literatur-100.html (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Kemper, A.: Björn Höcke – Der Kampf um die Sprache. Andreas Kemper im Gespräch. In: Kulturzeit. 3sat, 18.04.2024. Abrufbar unter: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/bjoern-hoecke-und-der-kampf-um-die-sprache-sendung-vom-18-04-2024-100.html (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Klemperer, V.: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 200119
Kraske, M./Laabs, D.: Angriff auf Deutschland. Die schleichende Machtergreifung der AfD. München 2024
Lewandowski, T.: Linguistisches Wörterbuch. Band 1–3. Heidelberg/Wiesbaden 19946
Münkler, M.: „Verdachtsfall“ für den Verfassungsschutz. Sprache der AfD zeigt die rechtsextreme Tendenz. Marina Münkler im Gespräch mit Korbinian Frenzel. In: Studio 9 – Der Tag mit… [Podcast]. Deutschlandfunk Kultur, 03.03.2021. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/verdachtsfall-fuer-den-verfassungsschutz-sprache-der-afd-100.html (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Roth, H.: Literatur als Kampffeld. Wie die Neue Rechte Literatur für ihre Ideologie nutzt. In: SWR Kultur am Morgen, 26.02.2025. Abrufbar unter: https://www.swr.de/swrkultur/literatur/wie-die-neue-rechte-literatur-fuer-ihre-ideologie-nutzt-100.html (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Schramm, E.: Unwort des Jahres 2023: Was verbirgt sich hinter „Remigration“? Constanze Spieß im Gespräch mit Eva Schramm. In: NDR Kultur Journal Gespräch. NDR, 15.01.2024. Abrufbar unter: https://www.ndr.de/kultur/Unwort-des-Jahres-2023-Was-verbirgt-sich-hinter-Remigration,unwortdesjahres142.html (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Wesolowski, K./Klug, T.: Faktencheck: Warum Hitler kein Kommunist war. In: Deutsche Welle (DW), 10.01.2025. Abrufbar unter: https://www.dw.com/de/faktencheck-warum-hitler-kein-kommunist-war/a-71266088 (letzter Zugriff: 06.04.2025)
Simone Neteler M. A. war nach einem Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Germanistik und Psychologie mehr als zwei Jahrzehnte Mitarbeiterin des Schriftstellers Walter Kempowski. Sie übernahm unter anderem die Redaktion für Das Echolot (1943), eine literarische Collage zum Zweiten Weltkrieg. Simone Neteler lebt als Autorin und Lektorin in Berlin.
Informationen zu ihrem aktuellen Projekt Stimmen der Straße sind abrufbar unter: https://www.stimmen-der-strasse.com

[Bild: privat]